Wie steht es um die Rolle des Architekten?

Gelegentlich gerate ich in Diskussionen mit Freunden und Kollegen über die zukünftige Rolle des Architekten. Angesichts der Vielzahl an Herausforderungen und rasanten Veränderungen, denen unsere Welt und letztendlich unser Beruf ausgesetzt ist, kann ich die wachsende Sorge und Verunsicherung, die uns erfasst, gut verstehen. Neben den großen Themen –Digitalisierung, Klimawandel, Globalisierung, Ressourcenverknappung – gibt es eine Reihe von fachspezifischen Veränderungen, die viele Architekten beschäftigen und die zu ihrer Verunsicherung beitragen. Viele dieser Veränderungen vollziehen sich kaum merklich. Aber sie schlagen kleine Wellen, die, wie ein in den See geworfener Stein, irgendwann in den Alltag verschwinden und sich dann unbemerkt in die gebauten Räume, die wir planen, einschleichen.

So geht die Furcht in der Architektenschaft um, dass wir zusehends zu Dienstleistern degradiert werden, dass uns immer mehr die Gefahr droht, als Subunternehmer von Generalunternehmern unterzugehen. Auch klagen hierzulande viele Architekten über die vor kurzem beschlossene Abschaffung der HOAI, weil uns damit die zuverlässige Grundlage für unsere Honorarermittlung genommen wurde. Wieder andere sind besorgt über die inzwischen hochgradig komplexen und unübersichtlichen „All you can eat-Verträge“, die einzugehen sie gezwungen sind – samt benachteiligender Beschaffenheitsverpflichtungen, kostenlos zu erbringenden Zusatzleistungen und monströser Haftungsrisiken. Nicht zuletzt treibt viele in unserem Berufsstand die Angst vor der Gleichgültigkeit um: der Gleichgültigkeit einer Gesellschaft, die eine verantwortungsvoll, kenntnisreich und feinfühlig gestalteten Umwelt nicht mehr zu schätzen weiß. Und vor der Gleichgültigkeit vieler Investoren, die auf der Suche nach maximaler Rendite die Architektur verhungern lassen. 

Der Architekt als Übernahmekandidat?

Viele Bauherren und Baukonzerne träumen vom digitalen Bauen in derselben Art wie die Autoindustrie Autos produziert: geplant in 3D, automatisch logistisch organisiert und von Robotern gebaut. Der Mensch kommt (noch) ganz am Schluss in der Kette für die Endmontage vor. Die Zukunft des Bauens, so die Vision, liegt im 3D Drucker oder ähnlichen, robotisierten Produktions- und Montagevorgängen. Um das System zu perfektionieren wird das Planungstool BIM nach Fertigstellung für das Gebäudemanagement genutzt. Mit dem Ziel, zukünftig ihren Kunden solche vollintegrierten Angebote, von der Planung über die Ausführung bis hin zum Gebäudeunterhalt, unterbreiten zu können, übernehmen sogar Bau- und auch Energiekonzerne vormals selbstständige Planungsbüros. Viele Architekten befürchten, dass im Zuge des Digitalisierungsprozesses viele Arbeitsplätze wegfallen und künstliche Intelligenz mehr und mehr an die Stelle des Menschen tritt. Der Blick zurück sollte da ein wenig beruhigen. Als ich vor über dreißig Jahren meine Berufslaufbahnbegonnen habe, zeichnete man mit den guten alten Rotring-Stiften und musste falsche Linien ganz vorsichtig mit einer Rasierklinge wegkratzen, um kein Loch im dicken, transparenten Papier zu verursachen. (Entstandene Löcher optisch verschwinden zu lassen war eine hohe Kunst!) Als die Revolution des Personal Computer kam und Architekturbüros binnen weniger Jahre die Zeichenbretter einschließlich 
Mayline, Radiergummi, Dreiecken und Rapidographen durch Computer, Programme, Drucker und Plotter ersetzen, herrschte ebenfalls Sorge um den Verlust von Arbeitsplätzen. Stattdessen hat sich die Zahl der Architekten in Deutschland seit 1990 fast verdoppelt.

Meines Erachtens lauert die Gefahr, die von der oben beschriebenen Entwicklung ausgeht, an ganz anderer Stelle: nämlich dass als Ergebnis eines solchen vollintegrierten und -digitalisierten Planungs- und Bauprozesses anonyme und gesichtslose Bauten entstehen, Zweckbauten ohne Geist, weil der unabhängige Architekt fehlt, um dem entgegenzusteuern. Architektur lebt von mutigen Architekten, die ihrer Kreativität freien Lauf lassen und ihr gesellschaftliches Mandat zeitgemäß interpretieren und erfüllen. Architekturbüros, die von Konzernen übernommen werden, können geistig nur dann überleben, wenn eine gesunde Mischung aus Effizienz und kreativer Freiheit sichergestellt wird. Aber ist dies möglich? Denn das Streben nach Architektur ist das Streben nach Schönheit, Proportion, Ordnung, Räumlichkeit, Materialität, Kontextualität und Sinnlichkeit von Gebäuden. Um diese Qualitäten zu erreichen, muss eine überdurchschnittliche Menge an Arbeit und Denken investiert werden, die sich oft schwer zügeln oder quantifizieren lässt, denn der kreative Prozess ist nicht unbedingt geradlinig, sondern eher iterativ. Jeder Arbeitgeber, der Architektur schaffen möchte, ob privat, öffentlich oder als Baukonzern, wird seinem Architekten dieses Stück Freiheit ermöglichen müssen, sonst stirbt die Architektur. Um die Architektur langfristig am Leben zu erhalten muss die Breite der Gesellschaft dafür kämpfen, den Stellenwert der Architektur aufrechtzuerhalten. 

Dennoch wird allzu oft innovative Architektur mit dem Verweis auf mangelnde Wirtschaftlichkeit abgeblockt. Aber was ist wirklich „wirtschaftlich“? Welches Gewicht spielen Nachhaltigkeit, Erscheinung, Zufriedenheit der Bewohner oder Gesundheit bei der Bemessung der Wirtschaftlichkeit? Architektur entsteht heute oftmals in einem Spannungsfeld gesamtgesellschaftlicher und partikularer Interessen, das der Architekt allein nicht auflösen kann. Nehmen wir etwa die Energieeinspaarverordnung (EnEV), die Jahr für Jahr verschärft wird, um die Energieverluste am Gebäude zu minimieren. Die Mehrkosten, die beim Bau für eine immer bessere und energieeffizientere Gebäudehülle entstehen, führen in der Folge zu höheren Mieten. Dringend benötigter preiswerter Wohnraum kann deshalb kaum noch kostendeckend errichtet werden. Viele Wohnungsbaugesellschaften etwa sehen sich nicht mehr in der Lage, Neubauten im unteren Preissegment des Wohnungsmarktes zu realisieren, ohne defizitär zu haushalten. Die konträren gesellschaftlichen Erwartungen im Wohnungsbau aufzulösen, vermögen weder Architekt noch Bauherr alleine. Hier bedarf es einer gemeinsamen Kraftanstrengung vieler Akteure und der Bereitschaft, eine neue Definition von Wirtschaftlichkeit zu etablieren.

Feilschen wir bald um unser Honorar?

In Deutschland genießt der Architekt ein hohes Ansehen. Dies liegt nicht nur an seiner technischen Kompetenz, sondern auch an der Tatsache, dass er hierzulande große Verantwortung trägt, weil er mit allen Phasen des Bauprozesses betraut ist. In anderen europäischen Ländern ist dies nicht der Fall. Dort werden oftmals Kostenplanung, Ausschreibung und Objektüberwachung, in vielen Fällen sogar die Ausführungsplanung, fremd vergeben. Der Architekt wird nicht selten nur mit der Entwurfs- und Genehmigungsplanung sowie der künstlerischen Oberleitung beauftragt. Alle übrigen Leistungen werden von Fachplanern oder Baukonzernen übernommen. 

Aber nicht nur der Umfang der übertragenen Verantwortung gibt dem Architekten mehr oder weniger Entscheidungsbefugnis, auch die Praxis der Auftragsvergabe kann dazu führen, dass der Architekt seine Funktion nur noch eingeschränkt wahrnehmen kann. In Finnland und Schweden etwa wird das Baugeschehen von Generalunternehmern beherrscht – Paketvergaben existieren dort deshalb bei Mittel- und Großprojekten so gut wie gar nicht. Die Generalunternehmer, die oftmals zugleich als  Entwickler fungieren, begreifen Planung häufig allein als zuarbeitende Dienstleistung. Sich unter diesen Rahmenbedingungen als Architekt zu behaupten, erfordert sehr viel Kraft und Energie. 

Auch wenn ich das Außerkraftsetzen der HOAI bedauere, so denke ich doch, dass wir uns als Architekten deshalb nicht sorgen müssen. Die HOAI regelte bisher nicht nur die Honorare der Planer, sondern es definierte auch die zu erbringenden Leistungen. Sofern sich die Auftraggeber in Deutschland an den Leistungsbildern der HOAI orientieren, werden die Planer dies auch tun. Entfällt die Verbindlichkeit von Honorartabellen, wird die Höhe der verhandelten Honorare womöglich nur marginal beeinflusst, aber dies eröffnet die Möglichkeit, das Leistungsbild neu zu verhandeln. In anderen europäischen Ländern orientiert man sich an etablierten Bezugsgrößen – in der Regel an einen marktüblichen prozentualen Anteil der Baukosten, ähnlich wie im Fall der HOAI. Allerdings werden zukünftig bei den Honorarverhandlungen die konjunkturellen Schwankungen des Marktes mehr Gewicht bekommen. 

Wie entkommen wir der Haftungsfalle?

In den letzten Jahren haben große Auftraggeber, ob öffentlich oder privat, eine Reihe von Rechtsberatern zu Dienste gezogen mit der Absicht, die Unwägbarkeiten des Bauens zu minimieren. Ihr Ziel dabei ist es, Gebäude in Auftrag zu geben, die nicht nur alle gewünschten Parameter erfüllen, sondern dass am Ende auch der festgelegte Kosten- und Zeitrahmen eingehalten wird. Dies wird möglich, so die Logik, in dem die Planer in die Verantwortung gezogen werden, in der Regel der Architekt. Zu diesem Zweck wurde die Interpretation des Begriffs „Beschaffenheit“ perfektioniert. Der Architekt (zumindest in Deutschland) ist in der Regel kein Dienstleister, er rechnet nicht Leistungen nach Stunden ab, sondern schuldet ein Werk. Dafür erhält er ein Honorar und haftet entsprechend. Dieses Werk wird durch seine Beschaffenheit(en) definiert. Aber was ist eine Beschaffenheit? Eine Beschaffenheit kann alles oder nichts sein. Um vertraglich bindend zu werden, muss sie allerdings genau definiert werden. Die Nicht-Erfüllung einer vertraglich definierten Beschaffenheit ist ein Sachmangel, der Werkvertrag droht nicht erfüllt zu werden und somit entfällt teilweise der Anspruch auf das Honorar. Die bekannteste (und gefürchtetste) Beschaffenheit ist die Einhaltung des Kostenrahmens. Viele Kollegen fürchten diese Beschaffenheit zu Recht. Gegen diese Sorge gibt es nur ein probates Mittel: unsere Kostenplanung detailliert und transparent zu erstellen, 
unser Gegenüber gut zu beraten und das Risiko dort zu platzieren, wo es hingehört: beim Bauherrn, denn der Architekt ist kein Bauunternehmer. 

Vor rund vier Jahren haben sich eine Reihe von namhaften Architektur- und Ingenieurbüros in Berlin zusammengeschlossen und einen bundesweiten Verein gegründet, den Fairtrag e.V. Das Ziel: eine Klage gegen die Musterverträge des Bundes, die eine sogenannte Kostenbeschaffenheitsklausel enthalten. Der Verein hat die Klage in dritter Instanz in Karlsruhe verloren. Die Gerichte haben eine solche Klausel in den allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) als rechtlich zulässig bewertet. Jedoch setzte sich keine der Instanzen mit dem inhaltlichen Aspekt der Klage auseinander. Wir Planer wollen unsere Verantwortung in Zusammenhang mit der Kostenplanung nicht abtreten. Die Frage, die uns aber beschäftigt, ist: Welchen Teil der Kosten müssen und können wir überhaupt verantworten? Denn die Baukosten schließen verschiedene Kostengruppen ein und erstrecken sich über verschiedene Leistungsphasen. Kostengruppen und Leistungsphasen stimmen aber oft nicht mit der zu verantwortenden und beauftragten Leistung der verschiedenen Planer überein. 

Die Ablehnung der Gerichte, sich inhaltlich mit dem Thema zu befassen, war zugegebenermaßen ein unerfreuliches Erlebnis. Aber sich zu wehren, hat sich dennoch gelohnt. Das zuständige Bundesministerium hat in unserem Sinne während der Prozesse die Musterverträge modifiziert, die nun für Architekten Möglichkeiten eröffnen, aus der Haftung zu kommen. Wesentlicher Aspekt dabei: die Hinweispflicht. Um für eine Kostenüberschreitung nicht potenziell haftbar gemacht zu werden, ist es wichtig, dem Auftraggeber zu vermitteln, dass jeder Planer jeweils nur für die Bereiche verbindliche Aussagen treffen kann, für die er auch die Planungskompetenz besitzt. Weder vergeben wir selbst die Aufträge, noch legen wir die Baupreise fest; weder stellen wir die Baustoffe selbst her, noch produzieren wir Einzelkomponenten. Die Beteiligten müssen verstehen, dass es eine Abhängigkeit gibt zwischen Leistungsumfang und Planungsstand einerseits und der Verbindlichkeit der Kostenermittlungen andererseits. Beschaffenheitsziele vor Beginn der Planung zu definieren, birgt im wahrsten Sinne unberechenbare Komplikationen. Vielmehr sollten sich Auftraggeber und Planer darüber einig sein, dass in der Vor- und Entwurfsplanung der Kostenrahmen immer entsprechend der erreichten Planungsreife anzupassen ist. Kann dies nicht mit dem Auftraggeber vereinbart werden, muss der Planer in der Konsequenz den nötigen Kostenpuffer einkalkulieren und den Auftraggeber darüber aufklären. Ein kluger Bauherr reagiert entsprechend. Zu den Hinweispflichten des Architekten im Rahmen der Kostenplanung gehört es auch, die aktuellen Marktentwicklungen einzuschätzen – und gegebenenfalls auf die Gefahr von Kostensteigerungen in bestimmten Bereichen hinzuweisen. Das befähigt den Bauherrn, rechtzeitig zu entscheiden, mit welchem Risiko er in die Ausführungs- und Vergabephase in Abhängigkeit von der Planungsreife einsteigen möchte. Unsere Aufgabe als Architekten kann dabei nur darin bestehen, den Auftraggeber bei der Abwägung von Kostenrisiko und erwünschter Qualität zu beraten –  eine Kostengarantie können wir jedoch nicht geben.

Sachwalter der Allgemeininteresses

Solange Gebäude gebaut und Städte entwickelt werden, wird es Bedarf an Architekten geben. Niemand anderes kann Gebäude in ihrer Vielfalt und Komplexität so durchdringen, gestalten und planen wie wir. Das gibt uns Kraft und Zuversicht. Nur der Architekt kann Raumbedarf in schöne, funktionale und innovative Bauwerke übersetzen. Und keine andere der am Bau beteiligten Berufsgruppen ist so universell ausgebildet, so vielseitig interessiert. Die größte Gefahr droht unserem Berufsstand dann, wenn die Gesellschaft das Interesse an einer qualitätvoll gestalteten Umwelt verliert. Ab dem Tag, an dem sie sich mit anonymen und gesichtslosen Zweckbauten zufriedengibt, ist das heutige Selbstverständnis des Architekten zum Untergang verurteilt. An jenem Tag werden wir zu technischen Dienstleistern, bestenfalls noch zu Beratern für Gestaltung. Wir haben es in der Hand, durch Kreativität, Dialog, Vermittlungskunst, Innovation, Lern- und Anpassungsfähigkeit unsere Mitbürger, Bauherren, Planungspartner sowie die Industrie mit den besten Ideen von unserer Unverzichtbarkeit zu überzeugen. Wir Architekten sind nach wie vor neutrale Sachwalter des Allgemeininteresses. Wir haben die Verantwortung, mit unserer Kreativität und unseren vielfältigen Fähigkeiten die Lebenswelt unserer Mitmenschen human zu gestalten. Das sollte sich nicht ändern.

 

 

erschienen in Baumeister, September 2020