2018 habe ich anlässlich des Konvents zur Baukultur einen Vortrag gehalten, bei dem ich von der Erfahrung berichtet habe, die unser Büro in den letzten 30 Jahren mit seinen teilweise prototypischen Projekten in Sachen Nachhaltigkeit gemacht hat. Ich habe damals von unseren anfänglichen Versuchen berichtet, die Betriebsenergie von Gebäuden deutlich zu verringern, und ich habe auch über die Ernüchterung gesprochen, als wir feststellen mussten, dass unsere Vorschläge oft nicht das erhoffte Potential im vollen Umfang entfaltet haben. In den Fällen, in denen wir es wirklich quantifizieren konnten, mussten wir öfter feststellen, dass unsere Planungsziele nicht oder nur mit Mühe erreicht wurden. In unserer Analyse lag das einerseits daran, dass die neuen Technologien zu kompliziert oder zu anfällig waren und andererseits vor allem aber auch an der zögerlichen Bereitschaft der entsprechenden Nutzer dieser neuen Gebäude, sich auf die jeweiligen Nutzungsbesonderheiten einzulassen. Diese erste Lektion lehrte uns, dass all unsere Pläne nicht viel Wert haben, wenn es uns nicht gelingt, die Menschen mitzunehmen, die in unserem Häusern leben sollen. Ich habe auch davon berichtet, dass wir dann in einem Umbauprojekt die Erfahrung machen konnten, dass der Erhalt des Rohbaus eines Bürogebäudes aus den 80er Jahren bei gleichzeitiger Erneuerung der Fassade, der Technik, und allen Belägen und Oberflächen immer noch eine Energieeinsparung mit sich gebracht hat, die mit allfälligen Optimierungen der Technik niemals erreicht worden wären. Das führte uns in der zweiten Lektion dann zu der Empfehlung, mehr Aufmerksamkeit auf die graue Energie zu richten und ggf. einen noch leichteren CO2-Fußabdruck nicht durch weitere technische Optimierungen, sondern durch „gezieltes Nichtstun“ zu erreichen. 2018 war das noch ein neuer Gedanke: inzwischen hat die Idee des Nicht-Bauens eine sehr weite Verbreitung gefunden und ist mancherorts mit einer gewissen ideologischen Verbrämung bereits zu Glaubensfragen geworden. Wenn mein Vortrag zu dieser Radikalisierung beigetragen hat, tut mir das inzwischen aufrichtig leid, denn ich plädiere weder dafür, unseren Beruf gleich ganz abzuschaffen noch jegliche Bautätigkeit einzustellen. Vielmehr geht es um eine Verschiebung der Rahmenbedingungen, die mit der sogenannten Bauwende verbunden ist, und als Konsequenz geht es um eine Verschiebung der Schwerpunkte der Architektur in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts.

Zum Thema Bauwende hat die Fraktion der Grünen vor circa einem Jahr im Bundestag einen Antrag eingebracht. In diesem Papier wird dargestellt, was wir alle wissen, nämlich dass das Bauwesen wegen seines sehr hohen Ressourcenverbrauchs in der Errichtung von Strukturen und seiner massiven CO2 Emissionen in deren Betrieb mit dafür verantwortlich ist, daß die global vereinbarten Klimaziele nicht erfüllt werden können. Weiterhin wird die Versiegelung von Böden, der Verlust von Biodiversität sowie der verschwenderische Umgang mit Abbruchmaterialien kritisiert. Die Abgeordneten fordern zu Recht, dass die Bundesrepublik Wege finden muss, diese Probleme zu optimieren bzw. zu beseitigen und ein Vorbild für andere Ländern abgeben sollte, deren Infrastruktur noch im Aufbau begriffen ist. Was folgt ist eine Fülle von Vorschriften und Sanktionen, die den gesamten Planungsprozess begleiten und im Sinne der CO2 Emission quantifizierbar machen sollen. Es ist verständlich, dass die Bauwende aus der Sicht der Gesetzgeber zwangsläufig nicht ohne entsprechende Vorschriften und deren Durchsetzung gedacht werden kann, aber ich muss gestehen, dass ich mich nach der Lektüre dieses Papiers etwas schwach fühlte. Für Architekten löst die Vorstellung, zu jedem Baugenehmigungsverfahren eine unübersehbare Anzahl von Nachweisen liefern zu müssen, sowie der Gedanke, schon im früher Entwurfsstadium alle Ideen sowohl monetär als auch bezüglich ihrer C02-Emission und Zirkularität quantifizieren zu müssen, akute Klaustrophobie aus. Ich denke, wir müssen uns darum bemühen, dass die Randbedingungen dieses neuen Bauens nicht nur aus dem Geist der Verhinderung entspringen, sondern zu Katalysatoren einer in jeder Hinsicht besseren Architektur werden.

Natürlich sind Lebenszyklusanalysen richtig und natürlich werden wir mit Holz bauen, wenn es lokal zur Verfügung steht; selbstverständlich werben wir bei unseren Bauherren um den Erhalt von brauchbaren Bestandsgebäuden, und CO2-armer Beton und Stahl sollten auf alle Fälle gefördert werden. Aber all diese Überlegungen gehen vom Nicht-Bau als Optimum aus und sind dazu angetan, den Schaden, den ein Bauvorhaben auslösen würde, so gering wie möglich zu halten. Wenn aber dann alle Formulare ausgefüllt und an alles einen Haken gemacht wurde, dann haben wir vielleicht ein Produkt mit einem vergleichsweise geringen CO2-Fußabdruck, aber gute und brauchbare Architektur haben wir noch lange nicht. Wir wissen noch nicht einmal, ob so ein quantitativ korrektes Gebäude überhaupt nachhaltig sein wird, denn darüber entscheiden letztlich die Generationen unserer Enkel und Urenkel. Deshalb sollten wir uns als Architekten und Architektinnen nicht im Micro-management der Einzelmaßnahmen verheddern sonder die grundsätzlichen Ziele unseres Berufstandes und deren notwendige Wandlung im Auge behalten.

Das, was Vitruv einst als Utilitas bezeichnet hat, um auf die fundamentalen Denkmuster zurückzukommen, die die Architektur über die Jahrhunderte begleitet haben, sollte man nicht nur mit Neubauten assoziieren, sondern auch auf vorhandene Situationen anwenden. Auch ein Bestandsgebäude, dessen Erhalt wir nach den neuen Regeln auf alle Fälle präferieren wollen, muss auf seine Zukunftsfähigkeit überprüft werden. In der Regel werden Bauprojekte ja ausgelöst, da man einen Bedarf decken, eine bestehende Situation verbessern möchte. Dieser Verbesserungswunsch muss mit der Optimierung des Einsatzes von grauer und roter Energie für die jeweilige Bau- oder Umbaumaßnahme einhergehen, aber das wird niemals das Hauptkriterium für den Erfolg eines solchen Projektes sein. Entscheidend sind vielmehr die Qualitäten der Nutzungen oder -besser- des Lebens, das durch solch eine Maßnahme ermöglicht wird.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die Klimawende nicht ohne einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel gelingen wird. Die Verschiebung der Prioritäten weg von fossilen Brennstoffen hin zu Resilienz und Suffizienz berührt alle Bereiche unseres Zusammenlebens. Wenn dieser Wandel gelingen, insbesondere wenn er ohne wesentlichen Zwang passieren soll, kann er nur in einem sozial halbwegs funktionierenden Umfeld stattfinden, und dieses Umfeld manifestiert sich im privaten wie im öffentlichen Räum. Die Qualität dieses Raums hat einen wesentlichen Einfluss auf das, was dort passiert. Natürlich kann man argumentieren, dass das Öffentliche heute im Netz und in den Medien stattfindet, aber ohne die Stadt, d.h. ohne die lokale physische Realität, in der wir leben, können auch diese Kommunikationswerkzeuge nicht wirklich gedacht werden.

Richard Sennet hat einmal die Stadt als einen Ort beschrieben, an dem sich Fremde in einer Form miteinander treffen können, die wir als zivil bezeichnen würden; und darin unterscheiden sich solche Orte grundsätzlich z.B. von den sozialen Medien, in denen ein Grundübereinkommen zu öffentlichen Umgangsformen teilweise abhanden gekommen zu sein scheint.

Die Leistungsfähigkeit öffentlicher Orte ist von ihrer Architektur nicht zu trennen, und sie definiert sich nicht über CO2-Emission oder Ressourcenverbrauch, sondern letztlich über ihre sinnlich wahrnehmbare, physische Qualität, die sich aus ihrer Funktionalität, ihrer Räumlichkeit, ihrer Materialität und Atmosphäre zusammensetzt. Bruno Taut hat den Begriff der Proportion verwendet, um den Zusammenhang aller dieser Faktoren in ein Wort zu fassen. Was gute und was schlechte Proportion ist, wird immer eine Frage der Abwägung sein, die von allen Stakeholdern einer Baumaßnahme durchzuführen ist. Dabei ist und bleiben Architekten und Architektinnen die Sachwalter der Allgemeinheit, denn sie definieren die Grenzen und die Schwellenräume, die zwischen Individuum und Gemeinschaft, also zwischen den Interessen der engeren Bauherrschaft und der Stadt existieren. Vorauszusehen, inwieweit diese Schnittstellen vom Klimawandel verändert werden und zu einer neuen, idiosynkratischen Architektur führen, ist eine der spannenden Herausforderung für unsere Profession in dieser Zeit.

So ist auch die Frage nach der anderen Vitruv’schen Kernqualität, der Firmitas, einer neuen Betrachtung zu unterwerfen. Natürlich denkt man dabei an Stabilität, also zunächst an den Widerstand gegen die Schwerkraft und erwartet, dass ein Gebäude stabil auf dem Erdboden steht und so gefügt ist, dass es allen denkbaren Angriffen standhält. Wir denken an Permanenz und erwarten, dass sich die Materialität und Konstruktion eines Gebäudes der drohenden Entropie des Alterns entzieht.

Auch Nachhaltigkeit suggeriert ja zunächst einmal lange Lebensdauer. Aber schon in der Definition des Brundtland Reports von 1987, dass eine nachhaltige Entwicklung die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigen müsse, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen könnten, suggeriert eine andere Art der Kontinuität, die nicht nur mit technischer Exzellenz und materieller Stabilität zu tun hat, sondern auch mit einer Qualität, die ich mit dem etwas altmodischen Wort „Annehmlichkeit“ beschreiben möchte. Annehmlichkeit hilft anderen aus diesen und zukünftigen Generationen, die Angebote anzunehmen, die ein Gebäude oder ein Stadtraum machen können. Annehmlichkeit ist mehr als Resilienz, die die Adaptionsfähigkeit einer Struktur, zum Beispiel an neue Klimabedingungen oder auch neue Nutzungen, meint. Annehmlichkeit beschreibt, was über das Normale hinaus geht, was das Leben komfortabler, angenehmer, reicher macht. Etwas, das dem Nutzer Zuneigung, Großzügigkeit, quasi Gastfreundschaft entgegenbringt. Während Resilienz in erster Linie auf technischem Wege Überlebensfähigkeit erzielt und so auch definitiv nachhaltiger ist als die vorwiegend kommerziell gedachten Produkte der Konsumwelt, die schnell der (geplanten oder der natürlichen) Obsolenz anheimfallen, suggeriert Annehmlichkeit darüber hinaus eine gewisse pragmatisch-emotionale Grunddisposition, die uns die Dinge schätzen lässt.

In unserer Erfahrung ist es nicht immer die mangelhafte Stabilität, die unsere Bauherren dazu motiviert, ein älteres Gebäude abzureißen und durch ein Neues zu ersetzen. Die Motivation kommt eher aus der Nutzung und natürlich aus dem Wunsch, ein Grundstück zu verdichten, um Geld zu verdienen. Wirtschaftliche, pragmatische und technische Argumente vermischen sich aber auch fast immer mit dem selten offen ausgesprochenen Drang einer Generation, der Gegenwart ihren Stempel aufzudrücken. Dieser Drang erklärt sich rational oft nur mit der mangelnden Annehmlichkeit dessen, was vorgefunden wurde. Je mehr ein Gebäude Zuwendung und Aufmerksamkeit ausstrahlt, desto grösser ist die Hemmung, es zu zerstören. Hier käme nun als nächster Schritt das Argument, dass man Bauherren ganz davon abbringen müsse, neu zu bauen und man sich als Architekt auf die Pflege des Bestandes konzentrieren solle. Mal abgesehen davon, dass sich der Drang zur Selbstbehauptung durch Bauen schwer unterdrücken lässt, präsentieren sich realistischerweise solche Situationen selten schwarz oder weiss als Abriss oder Neubau; tatsächlich geht es meistens um ein Weiterbauen, also Umbau und Anpassung, die in einer Gleichzeitigkeit von alt und neu münden, was potentiell widersprüchliche Botschaften kommuniziert. Womit wir schließlich bei dem letzten Vitruv‘schen Grundlagenkriterium der Architektur angekommen wären,  bei der Venustas, der Schönheit oder ästhetischen Erscheinung.

Wenn wir uns noch einmal an der Situation vor einem Jahrhundert orientieren und reflektieren wollen, wie die modernen Architekten versuchten, ihre Architektur aus den technischen und gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Zeit neu zu erfinden, und wir uns heute fragen, wie nachhaltige Architektur am Anfang des 21. Jahrhunderts aussehen kann, so gehört die Symbiose einer Vielfalt von unterschiedlichen Phänomenen aus unterschiedlichen Zeiten zu einer der Grundbedingungen unserer urbanen Gegenwart. Das Streben nach idealisierter Form wird einer Bereitschaft zur improvisierten Schönheit weichen müssen, denn selbst wenn wir unsere Architektur streng aus den Regeln der CO2-Vermeidung und Ressourcensparsamkeit entwickeln: auch das „Einfach Bauen“ findet in einem komplexen Umfeld statt und die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher Materialitäten und Ausdrucksformen ist -wie die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Lebenskonzepte- möglicherweise nicht nur ein Phänomen, das wir notgedrungen tolerieren müssen, sondern eines, das auf eine Freiheit verweist, aus der sich ein großes Potenzial ergibt. Angemessenheit ist nicht nur eine Frage der Bescheidenheit und Ökonomie der Mittel, sie ist auch eine Qualität, die auf die kulturellen Randbedingungen der Gegenwart konstruktiv eingeht, und deshalb wird von Architekten und Architektinnen erwartet, dass sie die konzeptuelle Klarheit ihrer Projekte auch aus ihrer Reaktionsfähigkeit entwickeln können.

Das „neue“ Neue Bauen wird also nicht an einer manifesto-artigen „kollektiven Form“ zu erkennen sein, sondern eher an einer Kollektion individueller Manifestationen, die ein heterogenes, komplexes Ganzes abgeben. Die Industrialisierung des Bauens ist nicht mehr nur ein singuläres Narrativ, welches oft auch mit handwerklichen Mitteln postuliert wurde, sondern eine Realität, die mit wachsendem Fortschritt das Spektrum der Möglichkeiten immer weiter öffnet. Da der Einsatz von Baumaterialien zunehmend an seinen Klimafolgen gemessen wird, wird sich der Schwerpunkt von Beton und Stahl in Richtung C02-neutraler Baustoffe verändern. Das Holz wird eine Renaissance erfahren. Die zunehmende Knappheit von Rohstoffen wird uns zu einem wertschätzenderen Umgang mit Materialien bringen; Infolgedessen werden wir nicht mehr nur über einen langen Lebenszyklus von fertigen Konstruktionen sprechen, sondern auch über die Brauchbarkeit der Teile nachdenken müssen, aus denen diese Konstruktionen zusammengesetzt sind.

Die Konzentration auf den Erhalt von Rohstoff und Material im Gegensatz zur Priorisierung der Langlebigkeit des Bauwerks müsste eigentlich zu einem völlig veränderten Verständnis von Architektur führen. Gebäude werden eventuell nicht mehr für die Ewigkeit gebaut, sondern sie sind grundsätzlich als temporäre Bauten zu betrachten - mit unterschiedlichen Nutzungsportfolios und Nutzungszyklen. Es ist nicht mehr die monolithische Solidität, sondern es sind die Wandelbarkeit der Struktur, die Zirkularität der Bauteile und der leichte Fußabdruck des Gesamtorganismus, die die Kontinuität der Architektur sicherstellen.

Ich plädiere für eine Bauwende, die die Taktiken zur Verlangsamung des Klimawandels zum Anlass nimmt, eine neue, bessere Architektur zu konzipieren. Dieses „neue“ Neue Bauen wird immer ein Weiterbauen sein, entweder buchstäblich durch die Adaption vorhandener Bauwerke oder in der Reaktion auf vorhandene Stadtkontexte. Es wird C02-neutrale, vorzugsweise wiederverwendete Baustoffe zum Einsatz bringen und seine Betriebsenergie selbst generieren. Vor allem aber wird es soziale Orte schaffen in der Stadt, Lebensumgebungen mit Annehmlichkeit bereitstellen und sich im Zweifelsfall schnell und spurlos in einen anderen Zustand verwandeln, wenn ein Bedarf erlischt und ein anderer erblüht. Dieser Wandel sollte nicht von Vorschriften, sondern von der Lust auf „best practice“ getrieben werden. Am besten ist es, wenn die öffentliche Hand mit gutem Beispiel voran gehen will und eine Baukultur fördert, die Achtsamkeit mit Freiheit verbindet. Neben mutigen Bauherren sind aber mehr denn je auch Architekten und Architektinnen mit Neugierde, Improvisationstalent, flexiblem Denken und integriertem Handeln gefragt, die mit Intelligenz hässliche Enten zu Schwänen werden lassen können. 

 

 

Keynote anlässlich des Kongresses Zukunft Bau, Bonn, 19.11.2021