„Wir können auch anders" ist das Thema, das mir Reiner Nagel für heute Abend gegeben hat - natürlich in Reaktion auf die Thesen meiner Vorrednerin Annette Kehnel aus ihrem Buch mit dem Titel „Wir konnten auch anders“. [1]
Dieses Buch erinnert uns daran, dass das zerstörerische Verhältnis, das die heutige Gesellschaft in vielen Bereichen mit der natürlichen und der menschengemachten Umwelt im engeren aber vor allem im weiteren Sinne hat, nicht die Folge eines Naturgesetzes ist, sondern das Ergebnis von im Lauf der Geschichte bewusst gewählter Mentalitäten und Verhaltensformen. Sie beschreibt unser gespaltenes Verhältnis zur Umwelt, den Raubbau an natürlichen Ressourcen und die sich daraus ergebende sozialen Spaltung, ebenso wie den Klimawandel und die nun schon deutlich spürbaren Wetterereignisse letztlich „der Moderne“ zu. Das ist in ihrer Definition - wenn ich das richtig verstanden habe - die historischen Periode, die auf das Mittelalter, ihrem Spezialgebiet, folgt, also das Zeitalter der Aufklärung und des Rationalismus, der Entdeckungen, der dynamischen Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Industrie aber auch der Eroberungen, der Ausbeutung von Menschen und Ressourcen, das Zeitalter, das im Verlauf von 500 Jahren schließlich direkt zu den globalen Katastrophen geführt habe, in denen wir uns heute befinden.
Ihr Anliegen scheint es zu sein, sozusagen Best-Practice-Beispiele aus der vormodernen Zeit bekannter zu machen, die eben - wie der Titel suggeriert- anders, d.h. in diesem Fall nachhaltiger, rücksichtsvoller, weniger zerstörerisch, fairer, kurz: besser waren und implizit damit dazu beitragen könnten, die besagten Katastrophen zu stoppen. Dabei eröffnet sie immer wieder Parallelen zwischen historischen Phänomenen und populären-, aktuell viel diskutierten Leitbildern, wie z.B. das der Sharing Economy (benediktinische Klöster), von gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensmodellen (Beguinenhöfe), dem Recycling (Papierherstellung), der Kreislaufwirtschaft (Reparaturberufen im Mittelalter), des Microcredit Lending (Monti di Pieta), des radikalen Konsumverzichts (Bettelorden) bis hin zur Priorisierung des Gebrauchswerts über den Tauschwert und den moralischen Codices von Kaufleuten (Wirtschaftstheoretiker Petrus Johannes Olivi).
Die Schrift richtet sich explizit gegen ungebremsten Kapitalismus und Profitmaximierung, gegen die Konsum- und Wegwerfgesellschaft, gegen Normierung und Vereinheitlichung, gegen koloniale Praxis und Ressourcenverschwendung, und fasst die eigene Haltung als eine fundamentale Kritik an den Grundprinzipien eben jener Moderne und insbesondere der Marktwirtschaft zusammen: nämlich an der Fixierung auf Fortschritt, Wachstum, Wohlstand und nicht endendem Mehrwert, vulgo Profit. Die zentrale Teufelsrolle spiele dabei der „Homo oeconomicus“, der Rationalist, Nutzenmaximierer und egoistischer Agent in eigener Sache, der das Prinzip des Darwinismus als eine Aufforderung zu wirtschaftlicher Dominanz missverstanden hat.
Das Buch ist also eine Kritik an „der Moderne“ und eine Ermahnung zur allgemeinen Verhaltensänderung angesichts der Bedrohung durch den Klimawandel. Die Beispiele aus dem Mittelalter sollen zur Einsicht anregen. Architekten und Bauschaffenden werden in dem Buch zunächst einmal nicht spezifisch angesprochen, aber von der Autorin wahrscheinlich eher als Teil des Problems gesehen, weniger als Teil der Lösung.
Wenn deutsche Architekt:innen (in letzter Zeit immer mehr) über die Bauwende reden, stehen am Anfang der Ausführungen üblicherweise Feststellungen, wie zum Beispiel die Tatsache, dass wir als Bauschaffende für den Klimawandel zu großen Teilen mitverantwortlich sind, weil in Deutschland ca. 40 % des CO2 Gesamtausstoßes sowie 50 % des gesamten Abfallvolumens aus der Bauwirtschaft kommen.
Dann kommt der Versuch, sich eine Vorstellung von dem enormen Bauvolumen zu vergegenwärtigen, das für eine Welt von 10 Milliarden Erdbewohnern in den nächsten Dekaden noch realisiert werden muss, und die Feststellung, dass dafür nicht ausreichend Baumaterialien auf dem Planeten vorhanden sein werden.
Dies sind zwar zunächst einmal Fakten, es sind aber oft auch rhetorische Topoi, die in der Choreografie eines Vortrags dann unweigerlich zur Hypothese des jeweiligen Redners führen, wie mit der Bauwende erfolgreich umzugehen sei.
Auch ich könnte jetzt vom Stand unserer Arbeit berichten, von unseren Bemühungen, mit jedem Bauvorhaben erneuerbare Energien zu ernten, um die unnötige Verbrennung fossiler Rohstoffe zu vermeiden, von unseren Erfahrungen mit dem Holzbau oder den laufenden Versuchen, Betonkonstruktionen so materialsparend wie möglich zu machen. Ich könnte vom Umgang mit Recyclaten oder auch gebrauchten Bauteilen berichten, ebenso wie von prototypischen Gebäuden, die mit Modul-, bzw. Systembauteilen arbeiten, die nach Ablauf einer ersten Gebäudekonstellation wieder nutzbringend in einem anderen Bau eingesetzt werden können. Ich könnte auch von unserem Werben für den „loose fit“ berichten, also für Konstruktionen, die Großzügigkeit und Flexibilität mitbringen und dementsprechend nach Ablauf eines Nutzungszyklus nicht abgerissen werden müssen, sondern relativ unaufwändig umgenutzt werden könnten. Und ich könnte von praktischen Beispielen berichten, bei denen der Umgang mit Bestandsbauten nicht nur zu energetischen-, sondern auch architektonischen Vorteilen geführt haben, die man mit einem Neubau nur schwer erreichen könnte. Dieser Vortrag sollte aber eben nicht zur Dissemination vermeintlicher Erfolgsstories missbraucht werden, sondern für grundsätzlichere Reflexion Anlass geben. Denn das Bauen in der Bauwende ist im Augenblick noch ein offenes, unvollendetes Projekt, mehr eine Zielvereinbarung als eine „roadmap“. Dabei ist das eine oder andere „net-zero“-Gebäude ein wünschenswertes Zwischenergebnis, aber eigentlich bedarf es eines generellen Wertewandels, der dazu führt, beim Bauen wie in allen Teilen der Gesellschaft der Vermeidung von CO2 Emissionen absolute Priorität zu geben.
Tatsächlich ist unsere Wirtschaft aber nach wie vor mehrheitlich von fossilen Brennstoffen abhängig und weitgehend kapitalistisch geeicht. Die Mehrzahl aller Menschen (und das schließt Bauherren ein) misst Erfolg in monetärem Mehrwert.
Das führt dann schnell dazu, dass Investoren und Bauherren die „Rettung der Welt“ vor allem um ihrer Marktposition willen betreiben und mit Nachhaltigkeitsargumenten den Tauschwert ihres „Produktes“ in die Höhe zu treiben versuchen. Ob bei den jeweils laut propagierten und gern auch zertifizierten Maßnahmen unter dem Strich tatsächlich eine Verbesserung eintritt, die sich messen lässt, ist oft nur schwer zu ermitteln.
Ein Paradigmenwechsel müsste anders aussehen: location, location, location müsste dem Nachweis von Zukunftstauglichkeit und Dauerhaftigkeit weichen. Eine transparente Lebenszyklusanalyse müsste die Nettonull im Betrieb wirklich nachweisen können und helfen, beim Errichten von Bauwerken die Emissionen drastisch zu verringern. Diese Ziele werden nicht ohne entsprechende Investition erreicht werden, die kaum jemand freiwillig leisten wird, es sei denn, die Verursachung von CO2- Emission würde bestraft bzw. ihre Vermeidung z.B. mit Steuerersparnis belohnt. Solange dies nicht der Fall ist, wird man als praktizierender Architekt mit dem Konflikt zwischen Kapital und Klimawende leben müssen und hinnehmen, dass man im Zweifel tatsächlich eher auf der falschen Seite der Geschichte steht.
Im Umgang mit dieser unbequemen Einsicht, kann man unter sensibleren Kollegen zwei Reaktionen beobachten: Vor allem jüngere Architekt:innen wenden sich vom Bauen gedanklich ab und fordern bis auf weiteres nicht nur Abrissmoratorien - sie fordern außerdem einen vollkommenen Stopp für den Neubau. Andere vertiefen sich mit großem Eifer in die technischen Details ihrer jeweiligen Strategien: Wieviel Tonnen CO2 kann man womit einsparen, wie lässt sich Material mehrfach verwenden, muss man das Holz am Ende des Lebenszyklus wirklich verbrennen, wie kann man die Verbundstoffe wieder voneinander trennen, wie belastbar ist der ungebrannte Ziegel, den ich aus dem Aushubmaterial meiner Baustelle herstellen kann usw.? Das sind nachvollziehbare Lösungsansätze, die aber angesichts der Monumentalität und Unübersichtlichkeit des Problems manchmal eher wie Ersatzhandlungen wirken.
Um fair zu bleiben: Die Lösung technischer Probleme ist zweifelsohne wichtig und die Entwicklungen diverser Techniken und Technologien hat in der Vergangenheit durchaus auch Erfolge gezeigt: Seit 1990 sind die gesamten CO2 Emissionen in Deutschland um ca. 30-40%, im Gebäudesektor um ca. 47% gesunken, was durchaus ermutigend, aber eben nicht ausreichend ist, vor allem wenn man sich gleichzeitig klar macht, dass der globale Gesamtausstoß von Klimagasen seit 1990 sich nicht etwa halbiert hat, wie gewünscht, sondern um ca. 60% angestiegen ist.
Zu guter Letzt bedrückt die Einsicht, dass die Summe aller in Deutschland verursachten Emissionen ohnehin nur ca. 2% des globalen Problems ausmachen, was nicht heißen soll, dass es hier keinen Veränderungsbedarf gäbe, im Gegenteil. Aber andererseits bedeutet dies auch, dass der Hebel, den wir auf nationaler Ebene theoretisch ansetzen könnten, relativ kurz ist.
Wie kann man auf all diese Krisenphänomene reagieren, was kann man tatsächlich dazu beitragen, die Welt in einem Zustand zu erhalten, den man ohne Scham an eine nächste Generation weitergeben kann? Was könnte man tatsächlich anders machen?
Der Wissenschaftsjournalist , Charles C. Mann widmet sich In seinem Buch „Prophets and Wizards“ [2] einer im weitesten Sinne vergleichbaren Fragestellung wie Annette Kehnel, allerdings aus der entgegengesetzten, der globalen Perspektive. Vereinfacht könnte man dieses voluminöse Werk als eine jüngere Geschichte der Nachhaltigkeit bezeichnen, die sich insbesondere mit der Rolle der Technologie beschäftigt. Der Autor identifiziert zwei grundsätzlich verschiedene Herangehensweisen an die Herausforderungen unserer Zeit insbesondere im zwanzigsten Jahrhundert, nämlich die der titelgebenden Propheten und der Zauberer. Ausgehend von zwei historischen Persönlichkeiten, dem Ornithologen William Vogt und dem Agrarwissenschaftler Norman Borlaug, entwickelt er zwei grundsätzliche Positionen in der Diskussion um die Zukunft des Planeten. Auf der einen Seite die Bedenken, dass die Grenzen des Wachstums erreicht sind und wir dementsprechend nur überleben werden, wenn wir entweder Wege finden, die Weltbevölkerung zu reduzieren oder unsere anspruchsvollen Lebensweisen massiv zu ändern. Die alternative Haltung – die der Wizards - geht nicht davon aus, dass die Suffizienzstrategie ausreichend oder realistisch sein wird und setzt deshalb auf vorhandene oder noch zu entwickelnde Technologien, die letztlich darauf abzielen sollen, mit erhöhter Effizienz die Grenzen der planetaren Belastbarkeit zu erweitern.
Dabei muss man zunächst erst einmal feststellen, dass unser vergleichsweise hoher und relativ ungestörter Lebensstandard ohne die Innovationen der Wizards nicht denkbar wäre. Borlaug z.B. gilt als der Vater genetischer Manipulation von Saatgut, die enorme Fortschritte in der planetaren Nahrungsversorgung erzielt hat, ohne die erhebliche Teile der Welt heute hungern würden - mit den entsprechenden humanitären-, aber auch politischen Konsequenzen.
Wizards sind Optimisten, vertrauen auf Innovation und Technologie; sie stehen 100% in der Tradition der Moderne, Prophets sind eher fortschrittskritisch. Die Thesen von Annette Kehnel z.B. gehören ziemlich eindeutig in die Kategorie der Propheten.
Uns Architekten haben unsere Stammväter, bzw. -mütter der Moderne (und damit meinen wir zumeist die Periode zu Ende des 19. bzw. Anfang des 20 Jhdts.) den Anspruch in die Wiege gelegt, die „Gegenwart zum Funktionieren zu bringen“ also unsere Architektur aus den ökonomischen, ökologischen, technischen und sozio-kulturellen Aspekten der Gegenwart zu entwickeln - ein anspruchsvoller Auftrag, denn man gerät schnell ins Zweifeln und fragt sich, ob wir überhaupt genügend Zugriff haben, oder nicht lieber die Grenzen des eigenen Wirkungskreises akzeptieren sollten. Müssen wir nicht zur Kenntnis nehmen, dass der Architekt (wie im Mittelalter) eben eher ein Handwerker ist, bestenfalls ein Baumeister - oder vielleicht sogar nur ein Hausmeister? Sollte man sich auf die Pflege tradierter- und die Beherrschung aktueller Technologien konzentrieren, ohne Anspruch auf konzeptuellen, gar utopischen Weitblick? Sollten sich Architektinnen und Architekten in den Reigen der dezidierten Reparaturberufe einreihen, von denen es im Mittelalter noch so viele gab, wie Kehnel berichtete?
Aus meiner Sicht wäre diese Frage eher negativ zu beantworten. Der sorgfältige Umgang mit Gebautem ist zwar unser Metier, denn ohne die Bereitschaft zur intensiven Hinwendung zur Materie wird weder beim Um- noch beim Neubau etwas Dauerhaftes entstehen. Dabei muss der Erhalt und die Reparatur bzw. die Adaption des Vorgefundenen das Grundprinzip unseres Handelns sein, und sei es auf dem Maßstab eines Fensters, eines Hauses, eines Quartiers, einer Stadt, einer Landschaft oder eines Planeten. Je größer der Maßstab, desto komplexer die Verantwortung, desto schwieriger die Problemlösung. Je kleiner, desto überschaubarer die Aufgabenstellung desto erfolgversprechender die Arbeit daran.
Ich höre auch die Kritiker sagen, dass wir uns nicht an Themen übernehmen sollten, die wir nicht lösen können, aber wir sollten die Welt auch nicht nur aus der Perspektive unseres Vorgartens bzw. unserer Baustelle oder unseres jeweiligen Forschungsthemas sehen. Will man sich dem gesamten Spektrum der Einflussnahme unseres Tuns nicht entziehen, bedarf es meines Erachtens immer noch des Gesamtanspruchs moderner Architekt:innen. Es genügt nicht, bedenkentragender Prophet zu sein, und sich mit Wunschdenken zu genügen, wenn wir das Gesamtergebnis im Auge behalten wollen. Wir müssen uns auch auf den unbequemen Pfad der Wizards begeben, selbst wenn dieser mit offenen Fragen und spekulativer Technologien gepflastert ist, wie z.B. bei der Anlage von Kohlenstoffsenken, der großmaßtäblichen Aufforstung oder z.B. auch dem Einsatz von Nuklearenergie - zumindest als Brückenlösung.
Wir befinden uns in einem radikalen Technologiewandel, der zweifelsohne zu fundamentalen Optimierungen, Effizienzen und damit einer Verschiebung der praktischen Prioritäten führen muss. Allein die Umstellung des gesamten Kontinents auf erneuerbare Energien und die Anpassung unserer Lebensgrundlagen an den Klimawandel muss zu grundlegenden Veränderungen in der täglichen Praxis auch von Architekten führen, denen wir uns nicht verweigern können. Im Gegenteil, wir sollten uns bis zu einem gewissen Grad an die Spitze der Bewegung stellen und versuchen, unsere besondere Fähigkeit zur Integration komplexer und oft widersprüchlicher Systeme zu gutem Nutzen einzusetzen. Will man in den Kategorien von Charles Mann weiterdenken, müsste man den Erfindungsgeist der Wizards mit der kritischen Kapazität der Prophets verbinden, um zu technologischen Lösungen zu kommen, die allen Maßstäben gerecht werden.
Die jeweiligen technischen Strategien zu entwickeln, scheint herausfordernd genug; was jedoch noch schwieriger zu sein scheint als der technologische ist der gesellschaftliche Wandel. Wenn im Bundestag allen Ernstes die Einführung von Wärmepumpen in deutschen Haushalten mit einer Atombombe verglichen werden darf [3], scheint die Politik nicht in der Lage zu sein, einfachste technologische Updates zu verstehen, geschweige denn umzusetzen. Anstatt diesen relativ kleinen technologischen Schritt von der Gastherme zum Wärmetauscher so geräuschlos wie möglich auf den Weg zu bringen, wird die Angst vor der Veränderung geschürt. Wie kann es in einem solch zukunftsscheuen Kontext gelingen, einen Wertewandel zu initiieren und erfolgreich in der Praxis zu verankern? Wie gelingt es, die Prioritäten zu verändern? Müssen erst sehr viele Menschen sterben, wie z.B. die zwölftausend Smogtoten von 1952, die in London zur Einführung des Clean Air Act geführt haben, in dem übrigens innerhalb eines Jahres mehrere Millionen Haushalte in London von Kohle auf Gas umgestellt wurden? Oder gibt es tatsächlich Möglichkeiten, an Vernunft und Rationalität zu appellieren und gegen die kurzsichtige Unvernunft von Opportunisten und Populisten eine Wertewende zu installieren? Haben Architekten und Bauleute in diesem Spiel eine Rolle?
Der Klimaforscher Andres Levermann schreibt in seinem Buch von der „Faltung der Welt“ [4] wie er sich die Umsetzung der Klimawende aus systemischer Sicht vorstellt: Er bietet zusätzlich zu den Alternativen der linear ansteigendem Bewegung des „modernen Fortschritts“ einerseits und des zirkulären Entwicklungsverlauf von Suffizienz- und Resilienzstrategien andererseits die Hypothese einer gefalteten Vorwärtsentwicklung. Hier würden einer Entwicklung klare Grenzen gesetzt, innerhalb derer sich aber das unendliche Potential diverser Entwicklungen entfalten könnte. Übertragen auf das Bauwesen wäre eine staatliche bzw. selbstgesetzte Grenze, zum Beispiel das Verbot, weiterhin fossiler Rohstoffe zu verbrennen. Innerhalb dieser strikten Vorschriften hätte man aber unendlichen Spielraum auf der Suche nach den besten Lösungen z.B. für die Ernte emissionsfreier Energie oder den Einsatz nachwachsender oder rezyklierter Baustoffe. In diesem Sinne könnten die Planenden im Bauwesen einerseits diejenigen sein, die für diese Grenze kämpfen und andererseits würden sie den gefalteten Freiraum erschließen, den der begrenzte Raum ihnen bietet.
Architektur und Städtebau könnten zu einem Leitmedium werden, das den Wandel im Alltag verankert. Es wäre nicht nur den Aktivist:innen überlassen, für die Bauwende zu kämpfen oder anderen Kolleg:innen, die sich vielleicht in der Stiftung Baukultur und Berufsvertretungen, Verbänden und der Politik generell engagieren, sondern auch den zahllosen Architekt:innen, die im öffentlichen Dienst die Qualität der gebauten Umwelt in Deutschland verwalten. Man könnte sich eine Art gebauten Aktivismus vorstellen. Damit würden nicht nur neue Techniken und Taktiken angewandt und getestet, sondern es entstünden auch sichtbare Zeichen, denn die gebaute Umwelt ist nicht nur eine funktionierende, energiekonsumierende Maschine, sondern sie ist vor allem auch eine Welt von Symbolen und Atmosphären, die zu gestalten die Kernkompetenz von Architekten ist. Was wäre, wenn es gelänge, die Werte der Nachhaltigkeit in Architektur so zu manifestieren, dass sie einerseits messbar anderseits sinnlich wahrnehmbar sind? Was wäre, wenn man mit Architektur quantitative Reduktion mit qualitativem Wachstum exemplarisch verbinden könnte. Könnten Gebäude nicht das vormachen, was unter anderen auch der Philosoph Kohei Saito [5] als „Degrowth“ bezeichnet?
Entscheidend wäre in diesem Fall nicht nur der möglichst effiziente Umgang mit Ressourcen und Emissionen, sondern vor allem auch der Erhalt, die Förderung und die Synthese einer gebauten Umwelt, die den Menschen eine Heimat bietet und dennoch den Wandel manifestiert. Architekten müssten gut brauchbare und solide Häuser und Stadträume entwerfen, die als Mikrokosmen der Veränderung funktionieren und erkennbare Botschaften einer anderen Welt in sich tragen. Im besten Fall müsste sich jeder Stadtbewohner persönlich angesprochen fühlen und die Wende käme bottom-up sozusagen durch die Hintertür.
A propos Stiftung Baukultur: Vor etwas mehr als 20 Jahren war die im Entstehen befindliche Stiftung maßgeblich an einer Ausstellung deutscher Architektur beteiligt, die eine Bestandsaufnahme zur Jahrtausendwende sein sollte. Die von Ullrich Schwarz kuratierte Schau hatte den Namen „Neue Deutsche Architektur - Eine reflexive Moderne“.
Der Titel kam – wie der Kurator in einem umfassenden Katalogbeitrag erklärt - von dem Soziologen Ulrich Beck einerseits und dem Gründungsdirektor des DAM Heinrich Klotz andererseits, der in einer Ausstellung mit dem Titel „Revidierte Moderne“ in Deutschland das Zeitalter der postmodernen Architektur eingeläutet hatte. Im Gegensatz zu dieser eher stilistischen Diskussion bezog sich Ulrich Becks Begriffsbestimmung naturgemäß eher auf den sozio-ökonomischen, generell gesellschaftlichen Kontext und sollte eine Moderne beschreiben, die unter grundsätzlich veränderten Voraussetzungen mit dem Ziel der Selbstoptimierung eine reflexive Haltung entwickelt habe. In der gebauten Moderne betraf das dann vor allem die Kritik an der modernen Stadt (wie z.B. von Alexander Mitscherlich oder Wolf Jobst Siedler) oder der modernen Architektur (wie z.B. von Aldo Rossi oder Robert Venturi). Ähnlich wie Jürgen Habermas betrachtete Beck dabei das Projekt der Moderne trotz aller Fehlentwicklungen offensichtlich als einen nicht abgeschlossenen Prozess. Es entstand der Begriff der „zweiten“ bzw. der „reflexiven Moderne“.
Ullrich Schwarz identifizierte in seiner Standortbestimmung vier aktuelle Paradigmen der „Selbstbegründung, Identitäts- und Funktionsvergewisserung von Architekten“ (wie er sagt), nämlich das Alte, das Eigene, das Neue und das Andere. Dies sind Kategorien, die die Architektur in erster Linie als ein System von Zeichen und erst in zweiter Linie als funktionierende Organismen beschreiben, was zum Zeitpunkt seines Artikels bereits als ein Lerneffekt des späten 20. Jhdts., als ein Aspekt jener Reflektion der Moderne zu verstehen war.
Mit etwas Anderem war die Vorstellung von Architektur als einem autarken Kulturprodukt gemeint. Architektonische Bemühungen, die auf die „Fremdheit und Nichtlesbarkeit“ „semantisch quasi verwaister Gegenstände“ abhebt, die sich in ihrem „rohen Sein präsentieren“, würden heute, drei Dekaden nach der großen Dekonstruktivismus- Ausstellung im MOMA selbst im Kunstkontext weitgehend auf Unverständnis treffen.
Andererseits engt die eher pragmatische ökologische Bewegung mit ihrer quasi instinktiven Rückbesinnung auf die Traditionen des Eigenen den Blick auf einen genius loci ein, der von einem gewissen Beharrungswunsch getragen ist. So verständlich das Verlangen ist, in einem Klima sozio-kultureller Entwurzelung der Entfremdung entgegen zu wirken, so sehr kann diese Tendenz gesellschaftlicher Integration entgegenstehen. Dies gilt auch natürlich für das (neue) Alte, dessen kodiertes Bild von Schönheit in erster Linie Stillstand und Exklusion befördert ohne Traditionen tatsächlich fortzuschreiben.
Das Neue ist in den ersten beiden Dekaden des neuen Jahrhunderts eher in Verruf geraten, wie wir anhand der Ausführungen von Annette Kehnel lernen können, aber es bedarf meines Erachtens einer Renaissance. Die große Hoffnung auf Klimagerechtigkeit wird sich zu einer Aufbruchstimmung verbinden, die gerne an eine gewissen Utopismus grenzen darf. Wir müssen der menschlichen Existenz einen Raum im Einklang mit der natürlichen Umwelt einrichten und das muss tendenziell für alle gelten.
Vielleicht ist das Klimagerechte eine neue Kategorie, die für eine Architektur stehen kann, die in der Auseinandersetzung mit den Werten der Nachhaltigkeit und der veränderten Haltung zum Material selbst eine erkennbare Ästhetik und eine eigene Schönheit entwickelt. Die Ergebnisse dieser Tätigkeit sollten praktische Anwendungsbeispiele einer anderen Anspruchshaltung sein, die quasi subliminal zeigen, dass Wandel geht und idealerweise sogar Spaß macht. Der Profession könnte diese Strategie eine veritable Revolution bescheren, die dem globalen Erfolg der modernen Architektur vor ca. 100 Jahren in nichts nachzustehen bräuchte.
Es ist an der Zeit, eine neue, klimagerechte Moderne auszurufen denn ohne technologischen und sozialen Fortschritt werden wir – wie dargestellt - die Krise nicht bewältigen. Mediale Selbstbehauptung und Wertschätzung kann die Profession und die Öffentlichkeit in gleichem Maße davon überzeugen, dass Architektur die Kraft hat, Epochen zu überdauern und nachhaltig für Lebensqualität zu sorgen.
[1] Prof. Dr. Annette Kehnel, Wir konnten auch anders, Blessing, 2021
[2] Charles C. Mann, The Wizard and the Prophet, Picador, 2018
[3] Frank Schaeffler, MdB, FDP, in der Debatte des „Heizungsgesetzes“ am 19.04.23 im Deutschen Bundestag
[4] Anders Levermann, Die Faltung der Welt, Ullstein, 2023
[5] Kohei Saito, Systemsturz, dtv, 2023
Vortrag anlässlich des Winterempfangs der Bundesstiftung Baukultur, Berlin, 8. Dezember 2023