Die Architektur ist wie kaum ein anderes kulturelles Medium immer Ausdruck ihrer Zeit. Gebäude, die neu errichtet werden, überdauern in der Regel Generationen; bestehende Situationen sind in einer Vergangenheit entstanden, deren Kennzeichen sie tragen. Wenn Architektur bewusst oder unbewusst Gefäß und Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft in ihrer Zeit ist, verbirgt sich in jedem neuen Baukonzept der Entwurf einer Gegenwart und einer Zukunft. Und das bedeutet natürlich auch, dass ein Interesse an und ein kritisches Verhältnis zu diesen Inhalten Voraussetzung für die eigene Arbeit ist; wenn das Produkt unserer Tätigkeit schon die Manifestation dessen abgeben soll, woran zukünftige Generationen diese Gegenwart messen werden, sollte man sich über sie Gedanken machen.

Es ist eine müßige Frage, ob es die sozialen und kulturellen Phänomene einer Zeit sind, die ihre Reflexion in der Architektur finden, oder ob die Architektur bzw. der Architekt seiner Zeit (in Teilen) ihre Form gibt. Ich würde vermuten, dass die erste Alternative die wahrscheinlichere ist, wobei in manchen Glücksfällen mit dem Aufkommen eines Gedanken auch eine Form entsteht, so dass die beiden gleichsam synonym werden.

Ein Phänomen in der Kultur unserer Zeit, das förmlich zur physischen Manifestation drängt, da es in jedermanns Bewusstsein so präsent ist, ist zweifelsohne das Interesse für Nachhaltigkeit und Ökologie. Dieses Interesse entspringt der Sorge um den verschwenderischen und rücksichtslosen Umgang mit der natürlichen Umwelt und der Angst um das Überleben des Planeten und seiner Bevölkerung. Schreckensmeldungen von der imminenten Überbevölkerung der Welt, dem Verschwinden natürlicher Ressourcen, den inzwischen messbaren Veränderungen des Klimas und den sich daraus ergebenden katastrophalen Folgen begleiten normalerweise Betrachtungen zu diesem Thema.

Das Bauen ist hier zweifelsohne betroffen: Zum einen ist die gebaute Architektur der größte Feind der natürlichen Umwelt, was Flächen- und Ressourcenverbrauch wie die Verbrennung fossiler Brennstoffe und Luftverschmutzung betrifft. Wohl überlegte Bauten können die katastrophale Veränderung unserer Umwelt tatsächlich verlangsamen oder (mit der entsprechenden Verbreitung und im Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen) sogar aufhalten.

Zum zweiten ist die allgegenwärtige Architektur wie keine andere Disziplin auch als Medium geeignet, ein verändertes Verhältnis zwischen den beiden Antagonismen von Natur und Zivilisation sicht- und nachvollziehbar zum Ausdruck zu bringen. Architektur könnte zum Agenten des Umdenkens und einer veränderten Praxis im Umgang mit der Natur und den natürlichen Ressourcen werden. Gebäude haben ja neben dem Nutzen für ihrer Besitzer und Bewohner grundsätzlich eine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft, sprich der Stadt, zu erfüllen. Die Stadt ist die gebaute Umwelt. Wenn sich die Stadt verändert, werden sich auch die Menschen verändern.

Dass eine solche Veränderung notwendig werden würde, war spätestens seit dem Bericht von den Grenzen des Wachstums des Club of Rome von 1968 bekannt. Bis eine Mehrheit der Gesellschaft auf die dort beschriebenen Einsichten allerdings wirklich reagierte, vergingen noch einmal circa 20 Jahre. In der Zwischenzeit bereiteten diverse Außerseitergruppen den Weg. Öko-Architektur war in ihren Anfängen infolgedessen schwer integrierbar, wurde eher von unpolitischen Einzelgängern betrieben, war jedoch gegen das Establishment, antiindustriell, antiurban und gezeichnet von einer nicht näher reflektierten Sehnsucht nach vorzivilisatorischen Verhältnissen.

Weitere zwanzig Jahre später ist die Welt digital und global, der technologische Fortschritt hat sich unaufhaltsam beschleunigt, der Klimawandel ist fortgeschritten, und am Anfang des 21. Jahrhunderts beginnt auch die Architektur endlich spürbar auf den Paradigmenwechsel zu reagieren. Dabei sind in Europa grob drei Tendenzen zu beobachten:

Noch immer gibt es die orthodoxe Öko-Fraktion der 68er Jahre. Was früher vielleicht eher von Hippietypen vertreten wurde, ist heute das Handwerk von „Experten“, die den Themen in wissenschaftlicher Manier zu Leibe rücken wollen. Hier werden die quantifizierbaren Aspekte des Bauens, nicht die qualitativen in den Vordergrund gestellt: In Deutschland hat sich das Wirken dieser Gruppe in erster Linie in Einspargesetzen niedergeschlagen, die den Energieverbrauch von Gebäuden per Gesetz drastisch reduzieren; In England und in Amerika haben einschlägige Organisationen darüber hinaus den Versuch unternommen, das was beim Bauen nachhaltig ist, zu benennen und aufzulisten, um dann anhand dieser Liste Punkte zu vergeben, die (in entsprechender Menge) dann zu einem BREAM- oder LEED-Zertifikat führen. Auf diesen Listen werden für den Einsatz von Recyclingmaterialien, die Integration erneuerbarer Energien, Vernetzung mit dem öffentlichen Nahverkehr, die Bereitstellung von Fahrradeinstellplätzen, die Unterstützung der Nachbarschaft und so weiter Punkte vergeben. Diese Listen sind als Planungshilfen sehr nützlich, wenngleich hier teilweise nur festgehalten wird, was man eigentlich im ersten Semester Entwurfslehre gelernt haben sollte: Die Ausrichtung eines Hauses zur Sonne, die ausreichende Tagesbelichtung aller Nutzungsbereiche und der Zuschnitt vernünftiger Kubaturen.

Darüber hinaus taugen diese Listen jedoch nicht als Blaupause für eine neue Architektur; sie sind nicht mehr als Zusammenstellungen funktionaler Anforderungen, Direktiven für Handlungsweisen, Zusammenfassungen messbarer Werte, die letztlich keine Auskunft über die architektonische Qualität eines Hauses geben. Im Gegenteil, Architektur und Ästhetik werden in diesen Kreisen eher mit Skepsis betrachtet. Wie heißt es so treffend im Leitfaden für ökologischen Bauen für deutsche Verwaltungen: „Häuser sind Zwischenlager für zukünftige Bauabfälle.“

Die politisch aktiveren Bewegungen der 68er-Generation hatten sich die Ökologie zunächst eher nebenbei auf die Fahnen geschrieben. Die Linken verehrten die Stadt des 19. Jahrhunderts und unterstützten die diversen Initiativen, diese zu erhalten. Diese Verehrung entstand oft aus der Kritik an maßloser Immobilienspekulation, generell jedoch auch aus der Kritik an einer Nachkriegspolitik, die mit ihrem fast naiven Vertrauen in Technik und Fortschritt, ihrem Wunsch (fast) alles Bestehende zu verändern und zu verbessern, vieles zerstörte, was erhaltenwert gewesen wäre. Die Verehrung wuchs mit der Kritik an der kapitalistischen Gesellschaft allgemein und ihren Fehlleistungen im Bereich der Stadtplanung und Architektur im Besonderen, und aus dieser Kritik formte sich der Mythos einer besseren Vergangenheit, die es galt, in einer neuen Urbanität wieder zu etablieren. Was mit diesem neuen Konservatismus einherging, war ein tief sitzender Skeptizismus gegenüber Fortschritt und Technologie generell und – insbesondere in Deutschland – die Sehnsucht nach einer ungestörten Identität.

Für viele Menschen verbindet sich auch heute mit Nachhaltigkeit nicht nur der Wunsch nach verantwortungsvollem Umgang mit den natürlichen Ressourcen des Planeten, sondern vor allem auch die Sehnsucht nach Kontinuität und Vertrautheit. In der Widersprüchlichkeit zwischen der Dynamik weltweiter Entwicklung und dem Wunsch nach individueller Stabilität verspricht deshalb die Ästhetik der Vergangenheit einen nahe liegenden Ausweg aus dem Dilemma der Gegenwart. Deshalb wird Nachhaltigkeit in der Architektur vielfach mit dem schon immer da Gewesenen assoziiert. Denn all diese Probleme von der Umweltverschmutzung, der Ressourcenknappheit und Entfremdung zwischen Menschen hat es früher nicht gegeben – kann man nicht einfach zu diesem Zustand zurückkehren? Dieser instinktive Trugschluss wird mit historisierender Architektur bewusst und opportunistisch am Leben erhalten. Hier soll die Botschaft vermittelt werden, dass das, was wie ein altes Gebäude aussieht, auch wie eines funktioniert; und was so aussieht, als wäre es alt, wird auch länger durchhalten.

So wird das Unbehagen mit der Natur beschwichtigt, denn die eigene Bereitschaft zur tatsächlichen Veränderung ist recht gering. Eigentlich möchte man das eigene Konsumverhalten nicht ändern und dennoch den Planeten schonen. Deshalb ist in der Warenwelt der Begriff der Nachhaltigkeit bereits allgegenwärtig; jedes Konsumgut vom Buch bis zum Kleidungsstück, vom Nahrungsmittel bis zum Automobil ist biologisch angebaut, schonend verarbeitet, fair trade, gesundheitsfördernd, und sparsamer als je zuvor. Die Botschaft sagt, dass beides geht: der ungehemmte Genuss und die Ecological Correctness. Nachhaltigkeit ist nicht eine Frage von Verzicht sondern von gesteigerter Qualität, die einen entsprechenden Aufpreis rechtfertigt und nebenbei auch noch das Gewissen beruhigt. Das klassische Klischee vom Luxus (wie alter Prachtbauten) geht hier mit dem ökologischen Mehrwert eine ikonografische Kohärenz ein, die nicht erst erklärt werden muss.

Als dritte Tendenz in der Gestaltung nachhaltiger Architektur gibt es ein ganzes Genre, das sich dem Ehrgeiz verschrieben hat, ökologisches Bauen in die Traditionen einer Sprache zu stellen, die eher für Technologie und den Fortschritt steht. Der performative Aspekt des Bauens, die Tatsache, dass ein Haus – wie ein Auto oder eine Maschine – nach seinen Verbrauchswerten beurteilt werden soll, verleitet zu dem Rückschluss, dass ökologische Architektur sich ausschließlich aus dem Gedanken der Leistungsform zu entwickeln habe. Form follows performance weckt Erinnerungen an die Frühzeit des Funktionalismus, als Le Corbusier in seinem Aufruf an die Herren Architekten die Schönheit des reinen Ingenieurbaus (im Gegensatz zu dem am Anfang des 20. Jahrhunderts grassierenden Eklektizismus) beschwor und zu suggerieren schien, dass die Schönheit quasi zu berechnen sei. Hier wird der Eindruck vermittelt, dass Ökologie eine Frage cleverer Technologie sei. Der Fortschritt liegt in der Optimierung der Systeme; selbstverständlich gehört es dazu, Material bis an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit zu bringen. Was Buckminster Fuller begann, sucht heute seine Vorbilder in der Bionik, in der Vorstellung, dass sich Häuser wie Tiere oder andere Phänomene der Natur verhalten könnten. Auch hier spielt die Ikonografie die Hauptrolle. Was biomorph aussieht, soll auch wie ein Lebewesen funktionieren. Angesichts der relativen Primitivität des Bauens bleibt die tatsächliche Vergleichbarkeit mit komplexen, lebenden Organismen jedoch bestenfalls Stückwerk. So kommt die Synergie mit der Natur oft nicht über eine Absichtserklärung hinaus; was dagegen immer wieder hinter der vermeintlich naturähnlich optimierenden Ingenieursmentalität hervorlugt, ist der pure Chauvinismus der Machbarkeit, der Wunsch, die Natur mit ihren eigenen Mitteln auszutricksen und sich damit der Macht über sie zu vergewissern. Dass dabei manches entsteht, was am Ende weder in seiner Leistung noch in seinem Ausdruck der Anforderung der Nachhaltigkeit gerecht wird, ist sozusagen eine natürliche Nebenwirkung.

Es ist sicherlich richtig, dass zahlreiche Aspekte des Ökologischen quantifizierbar sind und dementsprechend der Erfolg der diversen architektonischen Strategien auch bis zu einem gewissen Grad messbar ist. Es ist auch sicherlich nicht falsch, dass Bauteile, die ganz aus ihrer (zum Beispiel klimatischen) Funktionalität entwickelt sind, eine performative Ästhetik entwickeln dürfen. Gleichzeitig verbleibt aber in der Einschätzung dessen, was nachhaltig sein könnte, auch ein großer Bereich, der nicht messbar ist, der dem subjektiven Urteil des Individuums (des entwerfenden Architekten einerseits und des späteren Nutzers andererseits) anheim gestellt bleibt. Die ökologische Bewegung wurde gegründet, um dieser und den nächsten Generationen eine Welt zu schaffen, die lebenswert ist. Was genau das ist, eine lebenswerte Umwelt, bleibt jedoch der Erfahrung jedes Einzelnen überlassen. Genauer gesagt, die Lebensqualität der gebauten Umwelt lässt sich zu einem großen Teil nur mit dem sinnlichen Instrumentarium jedes Einzelnen messen.

Der Begriff der „Behaglichkeit“, der (auch von Ingenieuren) immer wieder benutzt wird, um die Zufriedenheit von Nutzern  zum Beispiel am Arbeitsplatz zu beschreiben, zeugt von der Ungenauigkeit dieser Betrachtung. Nachhaltige Architektur ist also auf die Ansprache dieses sinnlichen Instrumentariums angewiesen.

Was einen Wissenschaftler beunruhigen muss, sollte einem Architekten eine willkommene Herausforderung sein. Denn hier entsteht ein Interpretationsspielraum, in dem Architekten ihr eigentliches Handwerk entfalten können. Hier geht es darum, gebaute Räume zu schaffen, die in ihrer Materialität, ihrem Licht, ihren Farben die Sinne stimulieren, die in ihrem Maßstab Schutz und Geborgenheit, aber auch Staunen und Überraschung hervorrufen. Räume, die die Angst vor der Ungewissheit der Zukunft nicht mit immer gleichen Klischees abspeisen, sondern ihr durch kluge Innovation sowie Transparenz und Nachvollziehbarkeit entgegentreten. Ein Haus soll intelligent auf die Bedürfnisse seiner Bewohner reagieren können, aber die Bewohner sollen es auch verstehen lernen. Die Körpererfahrung ist dabei das primäre Wahrnehmungsinstrument, das zumindest dem sensibilisierten Benutzer auch den Weg in das intellektuelle Verständnis ökologischer Konzepte eröffnet. Deshalb dürfen wir uns nicht nur fragen, wie Nachhaltigkeit aussieht, sondern auch, wie sie sich anfühlt, wie sie klingt, wie sie riecht, und letzlich, wer sie ist, welches Wesen sie hat.

Ecological Correctness kommt oft mit puritanische Sauermine daher; was nicht wehtut, kann auch nicht helfen. Die Strategen der Industrie, wünschen sich schadlosen Luxus (die Autos der Zukunft sollen mit einer Höchstgeschwindigkeit von 300 Stundenkilometer fahren und keine Schadstoffe in die Atmosphäre ausstossen). Wir meinen, dass die Wahrheit wahrscheinlich in der Mitte liegt. Ökologisches Bauen muss zweifelsohne die Intelligenz technologischer Entwicklung verinnerlicht haben. Andererseits muss sie ihre Qualitäten in der Ökonomie reduzierter Mittel entfalten können. Denn der Luxus nachhaltiger Architektur kann nicht durch Mehrverbrauch erkauft werden. Er muss aus dem klugen Einsatz verringerter Mittel entstehen. Weniger muss tatsächlich mehr werden; es gilt, in der Einfachheit die Vielfalt und die Schönheit wieder zu entdecken. Diese Schönheit kann nicht aus verbrauchten Bildern entspringen (wie Le Corbusier richtig anmerkte), noch wird sie nur aus der Konsequenz rationaler Gedanken geboren, (wie wir von den Produkten des Funktionalismus wissen). Die Herausforderung der Gegenwart für Architekten ist es, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln und den sich verändernden Technologien, mit Intuition und Gestaltungswillen aus den anstehenden Aufgaben eine neue Sprache zu entwickeln, die mit den Menschen auf intuitiver Ebene kommuniziert. Die architektonischen Medien sind dabei die klassischen Mittel von Raum, Oberfläche, Licht und Farbe, die einerseits nicht mehr als ihre konkrete Präsenz zu bieten haben, andererseits jedoch in richtiger Anwendung nicht nur in effizienter und sparsamer Form ihren Zweck erfüllen, sondern der Imagination so viel Freiheit eröffnen, dass sie über Generationen geliebt werden.

 

Veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006