[…] Die zweite Frage ist: „Ist rund besser als eckig?“ […] Betrachtet man die Gesamtheit unserer ausgeführten Projekte und unsere Entwürfe auf dem Reißbrett, wird man feststellen, dass nur zwei von neun Arbeiten hundertprozentig geradlinig sind, ferner befinden sich ein paar Mischformen unter ihnen. Alle Entwürfe, so denken wir, sind jedoch sehr „rational“ gehalten. Wie im Fall der GSW-Hauptverwaltung, des Photonikzentrums oder der kombinierten Feuer- und Polizeiwache stehen die Gebäude mit ihrer geschwungenen Form oft absichtlich im Kontrast zu ihrer unmittelbaren Umgebung. Im Fall des Museums Brandhorst oder der Laboratorien von Biberach hingegen war der Baugrund unglaublich knapp bemessen. Geschwungene Formen wären hier unmöglich gewesen. In beiden Fällen hätte man dies als Beschränkung empfinden können, wir betrachteten es jedoch einfach als eine weitere Bedingung unserer Arbeit, die wir positiv in den Entwurf mit einfließen lassen.

Es kommt auf die Fähigkeit des Architekten an, ein Gebäude, ob „rund“ oder „eckig“, mit solcher Integrität zu schaffen, dass am Ende nichts anderes seinen Platz einnehmen könnte oder sollte. Wir sorgen uns nicht um geometrische Beschaffenheit, um ein „Markenimage“ zu definieren. Im Gegenteil, wir bewundern Künstler wie Gerhard Richter, die permanent etwas Neues versuchen und ständig ihr Publikum und oft genug auch sich selbst in Erstaunen versetzen.

Angesichts der äußeren und inneren Räume, die wir schaffen, gehen wir davon aus, dass durch sanfte anstelle von starren Formen Räume entstehen, die unserer Ansicht nach vielleicht mehr Verbindung zum menschlichen Körper und seiner Bewegung im Raum haben. Mit anderen Worten, die biomorphe Form erlaubt eine direkte Assoziation zwischen Gebäude und Benutzer. (Eine biomorphe Formensprache als Repräsentation verschiedener wissenschaftlicher Konzepte einzusetzen ist übrigens etwas vollkommen anderes.) Tatsächlich stehen wir der Mehrheit der so genannten nicht euklidischen Räume, die zurzeit weltweit mit Hilfe immer komplexerer Computerprogramme erschaffen werden, kritisch gegenüber. Hingegen inspirieren uns die Räume von Häring, Scharoun oder Aalto; das sind Räume, die Bewegung suggerieren, wie das Foyer der Philharmonie oder die Finlandia Hall. Diese Räume sind scheinbar entgegen der Schwerkraft aber aus einer direkten Funktionalität heraus bebaut worden. Übrigens gehören zu den interessantesten Konstruktionen von John Soane die Dienstbotenzimmer, in die er häufig eine geschwungene Treppe in einen (übrig gebliebenen) trapezförmigen Raum einfügte.

Wir nutzen unser ästhetisches Empfinden und arbeiten an der Form eines Gebäudes anhand von Zeichnungen und Modellen, bis wir das Gefühl haben, dass uns eine „Übereinstimmung“ zwischen dem Kontext, den Nutzungen und dem Entwurf gelungen ist. Manchmal ist für die „geschwungenen“ Räume mehr Arbeit nötig, vielleicht müssen im Laufe des Entwurfsprozesses mehr Modelle gebaut und diese mit kritischer Intuition statt rationeller Logik bewertet werden.

Uns faszinieren die verschiedenen Perspektiven, die geschwungene Formen schaffen. Ein geradliniges Gebäude wirkt normalerweise einfach nur größer, je näher man kommt, und gibt immer mehr Informationen in Bezug auf Struktur und Materialbeschaffenheit preis. Ein geschwungenes Gebäude hingegen öffnet sich und umfängt uns bei der Annäherung. Möglicherweise ist es als Ganzes schwerer zu erfassen, gibt es keine festen „Ansichten“ und man kann nicht verhindern, körperlich mit einbezogen zu werden, sobald man sich nähert, wie etwa beim Photonikzentrum oder beim Umweltbundesamt in Dessau.

Wir denken, dass Räume uns als Erstes intuitiv ansprechen und so natürlich wie möglich zur Nutzung einladen sollten – unabhängig davon, welche formale Sprache benutzt wird.

Um auf die oben gestellte Frage zurückzukommen: Wenn ich zwischen „eckig“ und „rund“ zu wählen hätte, würde ich vermutlich intuitiv „rund“ wählen. Dieser Intuition im wahrsten Sinne des Wortes Raum zu geben ist als eine Qualität, die durchaus einer Diskussion auf rationeller Ebene würdig wäre. […]

 

Vortrag anlässlich der Verleihung des Fritz Schumacher Preises im November 2003 [Auszug]. Vollständiger Text veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006