Lebendige Farbigkeit, das Spiel mit überraschenden Gebäudeformen, ein sensibler Umgang mit dem Stadtraum und eine kreative Auseinandersetzung mit den Anforderungen nachhaltigen Bauens – das sind nur einige Aspekte, die mit der Architektur von Sauerbruch Hutton in Verbindung gebracht werden. Seit der Gründung vor dreißig Jahren hat sich das Büro über Wohnungs- und Bürobau, zwischen Museen und Industriehallen, vom Möbeldesign bis zum Masterplan die unterschiedlichsten Aufgabenfelder erschlossen und immer wieder neue Wege erkundet, diese zu gestalten. Dem Wandel sozialer, ökonomischer und technologischer Herausforderungen dieser Jahrzehnte begegnen Sauerbruch Hutton mit einer anhaltenden Freude am Forschen und Entwerfen. Dabei ist das Studio auf fast 100 Mitarbeiter angewachsen und besteht heute aus einem internationalen Team mit erfahrenen und jungen Architekten, Designern und Modellbauern, geleitet von Louisa Hutton, Matthias Sauerbruch und dem Partner Juan-Lucas Young, zusammen mit den Associates Jürgen Bartenschlag, Andrew Kiel, Tom Geister und David Wegener. Vom Berliner Firmensitz aus werden Projekte in Europa und darüber hinaus bearbeitet.

 

Gelerntes weiterdenken

Die Wurzeln des Büros finden sich jedoch im London der achtziger Jahre, wo Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch an der renommierten Architectural Association gemeinsam studierten und lehrten. Erste praktische Erfahrungen sammelten sie auf getrennten Wegen bei sehr unterschiedlichen und doch geistesverwandten Vorbildern: So arbeitete Hutton nach ihrem Abschluss im Studio von Alison und Peter Smithson. Beide waren Protagonisten der Architektenvereinigung Team 10, die sich in den 50er Jahren aus dem Widerstand junger Architekten gegen die erstarrten Dogmen der klassischen Moderne formiert hatte, und bestrebt war, eine zeitgemäße Architektur aus dem gegebenen sozialen und regionalen Kontext heraus zu entwickeln, deren Räume einer individuellen Aneignung durch die Nutzer offenstehen. Sauerbruch hingegen wurde Mitarbeiter im Office for Metropolitain Architecture, OMA, das er noch in seinem „Originalzustand“ in der Partnerschaft zwischen Elia Zenghelis und Rem Koolhaas vorfand, die gerade begonnen hatten, mit Ihren Schriften und Entwürfen die Moderne in eine veränderte Gegenwart zu führen. Viele der in dieser Zeit angeeigneten Betrachtungs- und Herangehensweisen konnten beide mit auf den Weg nehmen, als sie 1989 ihr eigenes Büro in London gründeten.

Wie viele junge Architekten verbrachten sie zunächst viel Zeit mit Wettbewerbsentwürfen und freien Studien. Neben der Zeichnung wurde dabei die Malerei das Medium, mit dem sie die Wechselbeziehung von zweidimensionalem und dreidimensionalem Raum erkundeten. Die Werke des Bauhausmalers Josef Albers boten ihnen eine Inspiration und ließen sie erkennen, wie Farbe die räumliche Wahrnehmung beeinflussen, ja verändern kann. Auch Reisen trugen zu dieser frühen Faszination bei, vor allem die Farben Indiens hinterließen einen bleibenden Eindruck. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema Farbe folgen Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch seither auf den Spuren von Gottfried Semper, Bruno Taut, Theo van Doesburg oder Le Corbusier, lösen sich aber auch von deren Lehren und unterziehen sie mit ihren Arbeiten einer selbstbewussten Neuinterpretation.

Als das Büro erste kleine Aufträge erhielt – meistens Umbauten von Wohnhäusern privater Bauherren mit limitiertem Budget – forderte das Nachdenken über die Wirtschaftlichkeit der eingesetzten Gestaltungsmittel den Erfindergeist heraus. In den Londoner Häusern ist bereits zu beobachten, wie Farben behutsam und sehr gezielt eingesetzt werden, um beengte Raumverhältnisse zu weiten, dem Bestehenden eine neue atmosphärische Schicht hinzuzufügen, vermeintlich Vertrautem eine unerwartete Qualität zu schenken. Von Beginn an erkannten die Architekten das raumbildende Potential von Farben und nutzten es in der Praxis. Farbe wurde und wird von Sauerbruch Hutton als Material begriffen.

Ist ein Gebäude farbig, besteht allerdings leicht die Gefahr, dass der Betrachter all seine anderen Eigenschaften übersieht. Farbe, wie sie in den Projekten von Sauerbruch Hutton angewendet wird, ist jedoch niemals Selbstzweck, und nur diesen einen Aspekt ihrer Arbeit herauszustellen, erweist sich als problematisch, wenn in die Konzeption jedes Projektes gleichermaßen urbane, ökologische, funktionale, ökonomische, räumliche und sinnliche Aspekte einfließen. Dennoch stellt Farbe für die Architekten ein bedeutendes Werkzeug bei der Annäherung an einen Entwurf dar. Die Methoden wurden im Laufe der Jahre verfeinert, den Grundprinzipien sind sie treu geblieben:

“Wir beginnen ein Projekt in der Regel mit einfachen Skizzen, um die jeweiligen Grundkonzepte zu erarbeiten. Anhand von zahlreichen Alternativen vergleichen wir unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten. [...] Wenn Farbe schließlich erstmals mit Absicht erscheint, kommt Begeisterung auf: Das ist der Augenblick, in dem die rationale Analyse einem intuitiven Gefühl für das Wesen dieses Dings weicht, wenn das tote Objekt quasi lebendig wird und Sympathie und Zuneigung einfordert. Farbe hat eine direkte Verbindung zu unseren Gefühlen – sowohl in der Konzeption als auch in der Wahrnehmung – und es ist kaum möglich, sich ihrem Einfluss zu entziehen.”

Sauerbruch Hutton, Colour in Architecture, 2012, S.264

 

Die Stadt als Landschaft

Den ersten großen Wettbewerb gewannen Sauerbruch Hutton 1991 mit ihrem Entwurf für die Hauptverwaltung der Wohnungsbaugesellschaft GSW in Berlin. Mit dem Auftrag zog das noch junge Büro von London in die gerade wiedervereinigte Stadt.

Das Berlin der Neunziger Jahre zeigte die Eigenheiten der postindustriellen Stadt wie in einem Brennglas, als eine Landschaft ererbter Fragmente und Versatzstücke. Der bewusste Umgang mit den Elementen eines solchen Erbes und ihre retrospektive Einordnung in die erlebte Gegenwart hatte Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch bereits in London beschäftigt. Sie sehen darin die Voraussetzung für eine Architektur, die ihren isolierten Objektcharakter überwindet und ein Zusammenspiel mit ihrem Umfeld beginnt. Die städtebaulichen Strategien, mit denen sie dieses Ideal verfolgen, sind von den Prinzipien des Englischen Landschaftsgartens inspiriert. Dieser macht sich die physischen und kulturellen Qualitäten einer (Stadt-)Landschaft zunutze, indem er mittels gezielter gestalterischer Eingriffe ihre Lesart verändert und neue Orte schafft, die existierende Muster und gewachsene Widersprüche mit einbeziehen.

Diese Philosophie wurde im Entwurf für die GSW umgesetzt, der gleichermaßen auf den barocken Stadtgrundriss reagiert wie auf die verdichteten Stadtblöcke des 19. Jahrhunderts. Ein Büroturm aus den 50er Jahren bleibt als Solitär lesbar, ergänzt um eine neu errichtete Hochhausscheibe, die mit den Wohnhochhäusern im Norden des Quartiers korrespondiert. Das Ensemble von Raum- und Gebäudeformen vereint die heterogenen Fragmente und verbindet das Vergangene mit der Gegenwart. Selbst das Grundstück bleibt dabei als kontinuierliche Fläche wahrnehmbar, der Straßenraum durchfließt das Erdgeschoss, die Eingangshalle wirkt wie ein überdachter Platz, von dem sich Wege ins Gebäudeinnere hinein verzweigen.

Ein Haus sei wie eine Stadt und eine Stadt sei wie ein Haus. Die Formel, die Leon Battista Alberti in der Renaissance aufstellte, findet sich hier neu interpretiert. Sphären des Privaten und des Öffentlichen, die in unserer Zeit vielfach in Auflösung begriffen sind, werden in der Architektur von Sauerbruch Hutton räumlich hinterfragt und neu gefasst. Sie öffnet das Haus zur Stadt hin und findet ein Stück Stadt in jedem Haus.

Und tatsächlich: Lässt man auf der Suche nach einem übergreifenden Thema die Arbeiten der vergangenen Jahrzehnte Revue passieren, so wird deutlich, dass sich fast alle Projekte mit dem Städtischen im weiteren Sinne auseinandergesetzt haben. Wie sich dieses Städtische äußert, ist von Projekt zu Projekt unterschiedlich und abhängig von Programm, Umfang, Standort. In allen Arbeiten wird aber die Absicht deutlich, die Stadt als lebendigen Wohn- und Lebensort zu erhalten und immer wieder neu zu entdecken. Das Ergebnis sind Gebäude, die oft auch als Herausforderung an den Kontext verstanden werden können, sich weder unterordnen, noch als Fremdkörper wirken, und aus der Komposition von Vertrautem und Unerwartetem ein Stadtbild erzeugen, das den Betrachter zur Auseinandersetzung mit dem Raum anregt.

Stadt wird von den Architekten nicht als Endzustand betrachtet sondern als lebender Organismus, der sich ständig weiterentwickelt – eine Tatsache, die sich gerade im wandelbaren Berlin jahraus jahrein beobachten lässt. Sie selbst leisten mit ihren Arbeiten einen Beitrag zu dieser Weiterentwicklung. Nicht zuletzt, weil der städtebauliche Anspruch ihrer Projekte mit dem der Nachhaltigkeit eng verbunden ist. Denn gerade die Stadt bietet aufgrund ihrer Verdichtung das Potenzial für wirksame Effizienzsteigerungen, die eine Reduktion des CO2-Ausstoßes ermöglichen. Allerdings können technische Neuerungen nur dann erfolgreich sein, wenn sie mit einer klugen Architektur in das Gesamtgefüge der Stadt integriert sind, und es bedarf eines kreativen Erfindergeistes, um aus den oft widersprüchlichen Randbedingungen zeitgenössischer Bausysteme ein Ganzes zu formen, das einen positiven Beitrag zur Stadt leistet.

„Allgemein gesprochen ist die Stadt der allumfassende Ort unserer Existenz. Sie bildet das Repertoire unserer Eindrücke und Erfahrungen, den Horizont unserer Vorstellungswelten. Was immer wir der Stadt hinzufügen, muss diesen Horizont schützen und erweitern. Dabei geht es nicht nur um ein Mehr an Möglichkeiten, sondern auch um den Erhalt und die Bereicherung der sinnlichen Umgebung, die wir bewusst oder unbewusst tagtäglich in uns aufnehmen.“

Sauerbruch Hutton, Archive II, 2016, S.395

 

Eine Ästhetik der Nachhaltigkeit

Die Hauptverwaltung der GSW war das erste großmaßstäbliche Beispiel für den sparsamen Umgang mit Energie – sowohl mit kultureller Energie, indem ein für seine Zeit bedeutendes Gebäude bewahrt wurde, aber vor allem auch mit fossiler Energie. Ende der 90er-Jahre setzte das Gebäude bereits einen Großteil der Techniken zur Energieeinsparung ein, die später Standard wurden. Die Notwendigkeit des intelligenten Umgangs mit fossilen Ressourcen hat in Europa seither zu einer breiten Entwicklung neuer Technologien geführt, die zusätzlichen Energiebedarf von vorne herein vermeiden und bestehende Energiequellen nutzen. Mit den Projekten, die in den nächsten Jahren folgten, haben Sauerbruch Hutton den Einsatz dieser Technologien weiter erforscht und verfeinert.

So wurde mit dem 2005 fertiggestellten Neubau für das Umweltbundesamt in Dessau ein Modellprojekt ökologischen Bauens realisiert. Strategien intelligenter Haustechnik und erneuerbarer Energien fügen sich hier selbstverständlich und nahezu unsichtbar in eine kompakte Gesamtform. Die Holzelementfassade stellte in dieser Größenordnung seinerzeit einen Prototyp dar. Farbige Glasfelder zwischen den Fenstern artikulieren den langgestreckten Baukörper und reagieren in ihrer Tonalität auf die umliegende Bebauung. Zugleich erfüllen sie eine technische Aufgabe, denn hinter diesen Glasfeldern sind Lüftungsklappen für die nächtliche Kühlung des Gebäudes integriert. So werden mittels der Fassadengestaltung aktive und passive Maßnahmen zur Einschränkung des Energieverbrauchs mit einer bewussten Stimulation der Sinne verknüpft.

Bereichert um die technischen Erkenntnisse aus dem Planungsprozess für das Umweltbundesamt entstand fünf Jahre später quasi eine Weiterentwicklung des GSW-Hochhauses. Mit minimalem Energieverbrauch war die KfW Westarkade in Frankfurt zur Zeit ihrer Eröffnung eines der grünsten Hochhäuser der Welt. Auch hier ist die Fassadengestaltung Resultat der Nachhaltigkeitsstrategie. Im Zusammenspiel mit der markanten stromlinienförmigen Kubatur ermöglicht eine zweischichtige Druckringfassade die witterungsunabhängige natürliche Belüftung der Büros. Und ähnlich wie das Umweltbundesamt nimmt auch dieses Gebäude über die subtile Farbgebung der Lüftungsklappen einen Dialog mit seiner Umgebung auf.

Eine so unerwartete wie offensichtliche Strategie energiesparenden Bauens wurde 2014 beim Umbau eines Verwaltungsgebäudes für die MunichRe in München umgesetzt. Eine Untersuchung, ob der Abriss und Neubau oder der Umbau eines Bestandsgebäudes aus den 1980er-Jahren wirtschaftlicher wäre, sprach eindeutig für letzteres, und bot die seltene Gelegenheit, ein Gebäude zu recyceln. Unter Berücksichtigung der sogenannten „grauen Energie“, die mit dem weitergenutzten Rohbau erhalten bleibt, entstand ein Haus mit vorbildlicher Energiebilanz. Jetzt, nach der kompletten Erneuerung der Fassade, die nach dem Prinzip der kinetischen Polychromie entworfen wurde, präsentiert sich das einst unscheinbare Gebäude den auf der Schnellstraße vorüberziehenden Autos aus jeder Blickrichtung in einem anderen Farbkleid.

In all diesen Arbeiten geht der Begriff der Nachhaltigkeit über das rein Technische hinaus. Bereits ihre Formgebung lässt Rückschlüsse auf die angewendeten Nachhaltigkeitsprinzipien zu. Ebenso leiten die Fassaden ihr Erscheinungsbild aus ihrer Funktionsweise ab und bilden nicht nur funktional sondern auch atmosphärisch eine Schnittstelle zwischen Innen- und Außenraum. Die Architekten legen Wert darauf, dass ihre Bauwerke in synergetischer Beziehung zu ihrer Umwelt stehen und auf sie reagieren, quasi als künstlicher Teil der Natur oder natürlicher Teil der Stadt. Diese ambivalente Rolle zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit bietet einen weiteren konzeptionellen Ansatzpunkt dafür, wie Farbe in der Architektur gedacht werden kann.

Bereits mit dem Entwurf für das GSW-Hochhaus erhielt der Einsatz von Farbe eine neue Dimension. Von den Innenräumen wanderte sie in die Außenhaut, wo sie, wie in vielen späteren Projekten, eine Verbindung mit der Technologie eingeht, die eine zeitgemäße Fassadenkonstruktion unweigerlich prägt. Seither sind Sauerbruch Hutton bekannt für Fassaden, die sich um beides bemühen: Schönheit und ökologische Intelligenz. Je nach Projekt und Kontext kann die Farbe ganz unterschiedliche Aufgaben erfüllen: Sie kann die Mehrschichtigkeit einer Fassade unterstreichen, ihre Materialität hervorheben und ihren technischen Aufbau nachvollziehbar machen oder konterkarieren. Sie kann dem Gebäude eine Eigenständigkeit als Objekt im Stadtraum geben oder es in Dialog mit seinem Umfeld treten lassen.

Vor allem aber strahlt die farbige Oberfläche eine sinnliche Aura aus. Neben einer eleganten Proportionierung, Materialisierung und Detaillierung stellt sie das wirksamste Mittel dar, um eine emotionale Bindung zwischen Nutzer und Objekt aufzubauen. Diese sinnliche Wahrnehmungs- und Mitteilungsfähigkeit der Architektur spielt für Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch eine wichtige Rolle in der Frage, ob ein Gebäude nachhaltig funktionieren kann. Zwar lassen sich Menschen auch mit rein rationalen Argumenten von der Notwendigkeit einer Verhaltensänderung zu überzeugen, die Erfolgschancen scheinen jedoch größer, wenn sie von einer attraktiven und gut funktionierenden Architektur quasi zu einem Sinneswandel verführt und zu Komplizen des Energiekonzepts gemacht werden. So lässt sich in ihren Arbeiten die Entwicklung einer Art „architecture parlante“ nachvollziehen, die vom achtsamen Umgang des Menschen mit seiner gebauten und natürlichen Umwelt erzählt. Ästhetik wird hier zu einem Kriterium von Nachhaltigkeit – und Nachhaltigkeit zu einem Kriterium von Ästhetik.

„Langlebigkeit ist auch eine Frage von emotionaler Bindung. Wir meinen, dass Häuser, die sich lieben lassen, größere Überlebenschancen haben als solche, die nur versuchen zu beeindrucken. Eleganz im Sinne des Unangestrengten, des scheinbar Selbstverständlichen und des Schwerelosen hilft, Schwellen ab- und Kontakte aufzubauen.“

Sauerbruch Hutton, Archive II, 2016, S.397

 

Die Sinnlichkeit der Moderne

Sei es als Komplize oder Passant, der Mensch wird bei der Konzeption eines Entwurfs immer mitgedacht. Louisa Hutton und Matthias wollen Räume schaffen, die den Nutzer involvieren, mit ihrer Materialität, ihrem Licht, ihren Farben die Sinne stimulieren, über ihre Maßstäblichkeit Schutz und Geborgenheit, aber auch Staunen und Überraschung hervorrufen und schließlich die Fantasie anregen. Dem Museumsbau kommt in der Umsetzung dieser Ansprüche eine besondere Rolle zu. Hier sollen die genannten Qualitäten natürlich zuerst im Innern, in den Ausstellungsräumen zu finden sein, aber auch über das Museumsgebäude hinaus in sein Umfeld strahlen und dort dem städtischen Leben eine Bühne bieten.

Wenn man durch die Straßen Münchens geht und sich dem Museum Brandhorst nähert, kann man diese Ausstrahlung deutlich wahrnehmen. Das Gebäude ist mit einer dreidimensional texturierten Hülle aus farbig glasierten Keramikstäben bekleidet, deren Überlagerung horizontaler und vertikaler Linien mit ihrem Schattenwurf die geschlossenen Außenwände des Hauses in Schwingung versetzen. Mit jedem Schritt verändert sich seine Wahrnehmung. Aus dieser kinetischen Polychromie der Fassade entwickelt sich ein dynamisches Spiel zwischen einem flächigen, fast entmate­rialisierten Eindruck aus der Ferne und dem einer haptisch erfahrbaren Struktur aus der Nähe. Wie ein lebendiges Gemälde macht die Fassade im Stadtraum auf das Museum aufmerksam.

Auch ein Stadtquartier in Mestre erfährt eine solche Aktivierung, seitdem dort 2018 das Museum M9 eröffnet wurde. Den Mittelpunkt des Viertels bildet ein kleiner Museumsplatz als Teil einer neu geschaffenen Wegeverbindung durch einen bisher unzugänglichen Block, die Besucher in das Quartier hineinführt. Das M9 ist als aktives Museum konzipiert, ohne Schwelle zwischen Innen und Außen, das sich nicht nur an Touristen wendet, sondern explizit auch an die Nachbarschaft in Mestre.

Während im Innern eine interaktive Dauerausstellung das Publikum mit neuesten digitalen Techniken durch die Moderne des 20. Jahrhunderts in Italien führt, betont die Architektur umso mehr das physische Raumerlebnis. Besonders eindrücklich gelingt das auf der Haupttreppe, die zu den Ausstellungsbereichen führt. Auf dem Weg dorthin erlebt der Besucher wechselnde Raumstimmungen, indem das Tageslicht aus verschiedenen Richtungen eingefangen und dramatisch inszeniert wird.

Ähnlich beeindruckende Räume bietet die Experimenta in Heilbronn, die fast zur selben Zeit fertiggestellt wurde. Auf dem Weg zu den multimedialen Präsentationsbereichen des Science Centers lässt eine aufsteigende Raumspirale den Besucher das Gebäude gleichsam erklimmen. Eine Architektur der Bewegung verbindet die Ausstellungen in einer kontinuierlichen Raumsequenz und eröffnet changierende Panoramablicke auf die umliegende Stadtlandschaft.

Mehr noch als über die programmatische Ausrichtung generieren diese Museen durch ihre physische Präsenz Orte des gesellschaftlichen Austauschs, welche die europäische Tradition der Agora auf ihre Art fortschreiben und damit der zunehmenden Kommerzialisierung der Stadträume entgegentreten. Sie stärken den identitätsstiftenden Charakter des öffentlichen Raums und formen ihn zugleich neu, indem sie ihm Rahmen, Hintergrund oder Gegenüber werden.

Gerade mit ihren Museumsbauten verweisen die Architekten auf  die Körperlichkeit der Architektur als Gegenentwurf zu allem Digitalen, das in einem Augenblick geschaffen, konsumiert und vergessen werden kann. In einer schnelllebigen und körperlosen Medienwelt entwerfen sie Räume, die mit allen Sinnen erfahrbar sind und der Unruhe der Gegenwart, der Ungewissheit der Zukunft durch Innovation, Transparenz und Optimismus entgegentreten.

 „Was wäre, wenn wir unsere Städte wie Besucher sehen und uns auf Überraschungen freuen könnten, wenn wir bereit wären, jeden Tag neue Aspekte in dem zu entdecken, was wir für vollkommen vertraut halten? Was wäre, wenn Gebäude diese gleichzeitige Qualität von Fremdheit und Vertraulichkeit bieten könnten – wenn ihre Persönlichkeit komplex genug wäre, unsere Neugierde zu wecken, und uns zugleich mit offenen Armen zu empfangen? Ein Gebäude sollte wie eine Person sein, die man auf einer Party treffen möchte: attraktiv und interessant genug, um eine gute Unterhaltung führen zu können.“

Sauerbruch Hutton, Colour in Architecture, 2012, S.277

 

Neue Anforderungen, neue Mittel, neue Perspektiven

In der Gegenüberstellung individueller Bedürfnisse mit denen der Gemeinschaft liegt das Potenzial von Architektur als kulturellem Projekt. Louisa Hutton und Matthias Sauerbruch sind davon überzeugt, dass einzelne Gebäude durchaus Stellung beziehen können in ihrem Verhältnis zu Standort und Klima, sowie in ihrer Rolle als Wegbereiter veränderter Nutzungskonventionen. Auch die jüngsten Arbeiten von Sauerbruch Hutton, die auf den folgenden Seiten vorgestellt werden, verweisen auf dieses Potenzial.

Ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Voraussetzungen haben sich im Verlauf von 30 Jahren natürlich verändert. So schenken die Projekte der letzten Jahre zum Beispiel der Nutzung grauer Energie größere Aufmerksamkeit, setzen sich verstärkt mit dem Baumaterial Holz auseinander und untersuchen sowohl seine CO2-negativen Eigenschaften als auch sein atmosphärisches Potential. Herausragendes Beispiel hierfür ist sicherlich der Neubau der Immanuelkirche in Köln. Techniken der Vorfertigung werden ausgelotet, ebenso der Einsatz von sortenreinen Bauelementen und Verbindungsmitteln, wie zum Beispiel für das Schulungs- und Konferenzzentrum Hager Forum im Elsass oder im größeren Maßstab für das Studentenwohnheim Woodie in Hamburg. Und Projekte wie die Berlin Metropolitan School, für die ein Plattenbau aus Zeiten der DDR um einen Dachaufbau aus Holz und Kupfer erweitert wurde, aber auch das bereits erwähnte Bürogebäude der MunichRe und natürlich das M9 Museumsquartier in Mestre, folgen dem Ansatz des Umnutzens und Weiterbauens, und zeigen damit nicht zuletzt eine große Wertschätzung vorhandener Bausubstanz.

Bei einigen dieser Projekte mag dem Betrachter auffallen, dass die Farbe, die ja nicht selten an erster Stelle mit den Arbeiten des Büros assoziiert wird, in den Hintergrund zu treten scheint. Doch wie dieser Text zu zeigen versucht, kann Farbe als Charakteristikum der Architektur von Sauerbruch Hutton niemals isoliert betrachtet werden. Vielmehr stellt sie ein verbindendes Element dar, das technische Notwendigkeit und sinnliche Wahrnehmung zusammenbringt und über das Gebäude in den Stadtraum hinein wirkt. Folgt man der Spur der Farben, so führt sie den Betrachter unweigerlich weiter zu Aspekten von Urbanität und räumlicher Wahrnehmung, von Ökologie und Ökonomie, Funktionalität und am Ende immer wieder die Sinnlichkeit. Es sind diese Spannungsfelder, die den Entwürfen von Sauerbruch Hutton ihre unverwechselbare Präsenz und Wirkung verleihen.

“Wenn Architektur bewusst oder unbewusst Gefäß und Ausdruck der Kultur einer Gesellschaft in ihrer Zeit ist, verbirgt sich in jedem neuen Baukonzept der Entwurf einer Gegenwart und einer Zukunft.“

Sauerbruch Hutton, Archive I, 2006, S.273

 

 

Veröffentlicht in I Maestri dell’Architettura, Hachette Fascicoli, Mailand, 2018