Die Stadt als Ort ist heute schwer zu bestimmen. Städtische Kultur ist zumindest in Westeuropa überall gegenwärtig; ist eine Fußgängerzone städtischer als eine Autobahn? Im Netz der technischen Infrastruktur, das Europa heute nahezu lückenlos überspannt, ist die Ansammlung von Häusern, die wir traditionellerweise als Stadt bezeichnen, nur eine Serviceleistung unter anderen.

Mit dem Verschwinden des kategorischen Unterschieds scheinen die traditionellen Territorien von Stadt und Land einer Art kontinuierlicher Metropolis zu weichen. Während die Landschaft im dichter werdenden Netz urbaner Strukturen immer mehr verstädtert, verwandeln sich zahlreiche Innenstädte (wie die von London) durch den Verfall traditioneller Infrastrukturen und die Überlagerung heterogener Systeme in neue hochgradig artifizielle Landschaften. Und mit der traditionellen Identität des Ortes verschwindet jede idiosynkratische Ikonografie. Die Frage nach dem physischen und kulturellen Kontext einer architektonischen Maßnahme muss in jedem Fall erneut gestellt und beantwortet werden.

Diesem zweifellos hohen Anspruch entziehen wir uns mit pauschalen Strategien. Die unkritische Wiederbelebung historischer Muster ist ein Klischee, das die Sehnsucht nach Stabilität und Kontinuität anspricht und den Mythos einer würdigen Vergangenheit der Gegenwart als Messlatte anlegt. Das andere Extrem akzeptiert historische Präzedenz nur zur Rationalisierung individueller Kreationen und verstrickt sich im ebenso klischeehaften Drang nach Originalität in immer neuen Avantgardismen. Das eine Konzept erfindet eine Ideal-Kommune ohne Widersprüche als Bauherrn, das andere verneint alle Gemeinsamkeit. Einem denkenden Architekten müssen beide Modelle fragwürdig erscheinen.

 

Die unvollendete Moderne

Die Architektur und Stadtplanung der Moderne sah sich mit der Kultur ihrer Gegenwart unmittelbar verbunden. Sie sah die Massen als Bauherrn und moderne Technologie als Hilfsmittel; es war ihre erklärte Absicht, die Konflikte der Gegenwart zu lösen und die Realität zum Funktionieren zu bringen. Das heroische Experiment wurde vom Krieg unterbrochen. Die wenigen Protagonisten, die danach den modernen Gedanken ernsthaft weiterentwickelten, wurden von der Welle der Mittelmäßigkeit eines massiven Rekonstruktionsprogramms hinweggeschwemmt. Das Experiment der frühen Moderne ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Die Gegenwart der Neunziger besteht aus einer Landschaft ererbter Fragmente und Versatzstücke, deren Relevanz für unsere Realität zu überprüfen ist. Der Umgang mit den Elementen dieses Erbes und ihre retrospektive Einordnung und Rationalisierung scheinen der erste Schritt zu einer Architektur, die über ihren isolierten Objektcharakter hinaus Relevanz für ihr Umfeld haben kann, ohne auf Klischees der „bewährten Muster“ zurückfallen zu müssen.

 

These

Der Versuch, in der Landschaftsstruktur des kontemporären „urban hybrid“ Westeuropas Ordnungsstrukturen zu entdecken, gleicht der Verwandlung einer wilden Landschaft in einen Garten. Das Verhältnis des Landschaftsgartens zur Landschaft gleicht der Haltung der Moderne zur Gegenwartskultur.

 

Landscape Tradition

Der Landschaftsgarten ist im England des 18. Jahrhunderts entstanden. Er ist nach wie vor die subtilste und am weitesten kultivierte Manifestation der landscape tradition, welche in der Mentalität und im kulturellen Bewusstsein der Engländer eine zentrale Rolle spielt. Grob kategorisiert wäre ein Werk in dieser Tradition den konkreten Gegebenheiten (sei es der Nutzung oder des Ortes) verpflichtet, wobei sich der Gestaltungswille unterordnet oder sich von diesen ableitet. Im Gegensatz dazu stünde die Logik des abstrakten Konzeptes, die danach strebt, eine einmal angenommene absolute Wahrheit ohne Ausnahme zu manifestieren.

 

Genius Loci

Am Anfang eines Landschaftsgartens steht das Begreifen und Herausarbeiten der Qualität eines Ortes. Browns und Reptons Lehrbücher zeigen in anschaulichen Diagrammen, wie die Natur durch Variation, Kontrast und Überhöhung noch „natürlicher“ gemacht werden kann; wie ein Garten aus einem Ort heraus entsteht, der durch den Eingriff überhaupt erst zum Ort wird. Diese Vorgehensweise ist enorm flexibel und kann im Fall des Gartens Landschaftselemente ebenso wie Landwirtschaft und Architektur in das Gesamtwerk mit einbeziehen. John Vanbrugh argumentiert für die Erhaltung eines alten Gebäudes bei Blenheim Castle, da dieses zusammen mit neu zu pflanzenden Bäumen „would indeed supply all the wants of Nature in that place“.

Dies ist die Hauptlektion, die uns der Landschaftsgarten lehrt: Das flexible Eingehen auf einen Ort, woraus auch immer er bestehen mag, und das Finden und Herausarbeiten des Genius Loci. Eine Strategie, die im ununterbrochenen Kontinuum einer (Architektur-) Landschaft Orte mit Identität und Kraft schafft, ohne existierende Muster zu vergewaltigen oder widersprüchliche Ansprüche unterdrücken zu müssen.

 

Bewegung / Theater / Film

Der Landschaftsgarten ist als dynamische Struktur konzipiert. Sieht man seine einzelnen Elemente als Szenenentwürfe, kann die gesamte Erfahrung als Theater oder Filmerlebnis gelesen werden. Im Falle von Stourhead zum Beispiel ist der Garten bewusst als Reise angelegt. Einzelne Stationen im Park sollen Stationen auf der Reise des Aeneas (nach Vergils Epos) verkörpern. In anderen Fällen werden Stimmungen und Situationen angeboten und der freien Assoziation überlassen. Entscheidend ist jedoch, dass der Garten als Sequenz von Erlebnissen und Räumen in der Zeit angelegt ist – eine Denkweise, die der normal gewordenen motorisierten Bewegung in der Stadt und unserer unbewusst völlig verinnerlichten Wahrnehmung dieser Realität als Film weitgehend entgegenkommt.

 

Esse est percipi

Der Landschaftsgarten strebt nach einer Komposition von vielfältiger und abwechslungsreicher sinnlicher Qualität – ein Aspekt, der historisch gesehen mit dem englischen Empirismus eines John Locke zu verbinden ist. Inhalte werden auf einer direkten und populären Ebene transportiert. Obwohl die direkte Ableitung einer Gartensituation von einem gemalten Vorbild historisch nur in einzelnen Fällen wirklich nachweisbar ist, ist die malerische, bildhafte Qualität des Landschaftsgartens offensichtlich. Landschaftsgärtner (wie William Kent) waren vielfach auch Maler: Um ihre Entwürfe zu beschreiben, waren sie auf Bilder, Perspektiven oder ähnliche dreidimensionale Darstellungsarten angewiesen. Landschaftsmalerei wurde zum Vorbild für gebaute Landschaften.

Bereits im frühen 18. Jahrhundert war die Wahrnehmung der Natur offensichtlich so mit der Landschaftsmalerei eines Poussin, Lorrain oder Rosa verstrickt, dass Horace Walpole auf seiner Grand Tour die (wirklichen) Alpen in einem Brief von 1739 als „precipes, mountains, torrents, wolves, rumblings, Salvatore Rosa“ schilderte. Diese Vermischung von Bild und Abbild beschreibt treffend die Realitäts-Überlagerungen, die die Sprache eines englischen Gartens konstituieren, scheint aber auch nicht so weit entfernt vom Realitätsbegriff, wie ein kontemporärer Künstler wie zum Beispiel Nam June Paik formulieren würde.

Hat man den Landschaftsgarten als Gesamtkunstwerk erkannt und die Analogie im Umgang mit der Stadtlandschaft der neunziger Jahre begriffen, bleibt nur noch zu beobachten und zu lernen, wie die besten Gärten die abstrakte Strategie dreidimensional umsetzen. Und da scheint die pittoreske Qualität weniger relevant, die Gordon Cullen in seinem „townscape“ so in den Vordergrund stellte. Vielmehr interessiert die Metamorphose bestehender Elemente durch Veränderung ihres Rahmens: wie eine normale Baumgruppe platziert wurde, um den einen Blick zu flankieren, den zweiten zu kontrapunktieren, den dritten zu verdecken. Wie das kunstvoll Ausgedachte völlig normal erscheint und das Gewöhnliche zum Speziellen erhoben werden kann. Wie vorhandene und durchaus fremde Elemente ihre Rolle im Vor- und Hintergrund zu finden scheinen und wie eine neue Komposition verschiedener Einzelelemente wirkt, als sei alles ganz natürlich gewachsen. Was entsteht, ist nicht ein pittoreskes Bild von Postkartenqualität, sondern ein Bildraum mit der suggestiven Kraft des Ortes, der das ästhetische Erlebnis der Sinne zum poetischen in der Fantasie werden lässt.

 

Zuerst veröffentlicht in ARCH+ 118, September 1993. Sodann veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006