Museen haben im Augenblick Hochkonjunktur. Noch nie gab es eine derart weit verbreitete Nachfrage nach dem Museumsbesuch, noch nie wurden in Europa und Amerika derart viele Museen gebaut wie in den letzten 10 bis 15 Jahren. Die „langen Nächte“ locken in vielen europäischen Hauptstädten Zehntausende in die Museen der Stadt, die Urlaubsreise nach Bilbao, Basel, Bregenz oder Berlin der Museen wegen ist keine Seltenheit mehr. Museen verkörpern offensichtlich ein erhebliches kulturelles und wirtschaftliches Kapital. Aus der Perspektive der Museumsmacher und der Museumsbauer ist zu diskutieren, wie dieses Kapital sinnvoll einzusetzen ist und was von einem Museumsbau zu erwarten wäre.
Ursprünglich stand hinter dem Museum die Idee der Sammlung, und erst später wurden sie zu Orten der Bildung. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich Museen vielfach zu Musentempeln, in denen die Kunst konserviert und das Schöne und Erhabene verwaltet wurden wie die Präparate einer naturhistorischen Sammlung. Die diversen Sezessionsbewegungen im 20. Jahrhundert fingen an, diese Verkrustungen aufzubrechen, Künstlerbewegungen wie Dada und später Pop und Fluxus gelang es zeitweise, die Aura des traditionellen Kunstmuseums erfolgreich zu untergraben und die Natur dieser Institution bis auf weiteres grundsätzlich zu ändern. Duchamps’ Pissoir auf einem Sockel im Museum wurde zum Sinnbild der Absurdität elitärer Institutionalisierung der Kunst, die zu durchbrechen Aufgabe des 20. Jahrhunderts werden sollte.
In zeitgenössischen Museen oder solchen, die auf die zeitgenössische Wahrnehmung historischer Kunst abheben, treten infolgedessen heute neben die konservatorischen und didaktischen Aufgaben die Begegnung und der Dialog zwischen dem Individuum (des Künstlers oder Kurators) und der Masse. Der Künstler – der selbst Bestandteil der Masse ist – wird durch den Kurator als Individuum hervorgehoben, der Signifikanz seiner Arbeit wird mit der Ausstellung eine öffentliche Bühne verliehen.
Umgekehrt wird dem Publikum das Spektrum der eigenen (individuellen) Existenz vorgeführt, der Einzelne wird angesprochen und auf sinnlich-anschauliche Art zur Reflektion seiner Lebensumstände angeregt. Die Arbeit des Künstlers ist weniger Gegenstand distanzierter Bewunderung und abstrakten Studiums, sondern wird zum Maßstab der eigenen Existenz.
Die Auseinandersetzung zwischen dem Betrachter und dem Werk am öffentlichen Ort ist wie die Fortsetzung der Auseinandersetzung zwischen Künstler und Werk im Atelier (wie Remy Zaugg dies formuliert). Wenn ein Museum eine solch intensive, aber nicht notwendigerweise formale Begegnung nicht erlaubt, hat es bereits sein wichtigstes Potenzial vergeben.
Künstlerische Arbeit überschreitet in der Regel die Grenzen des „Normalen“ und verweist auf die scheinbar unzugänglichen Potenziale unseres Daseins. Damit artikuliert sie– selbst wenn sie die Unfreiheit zum Thema hat – den Wunsch und die Fähigkeit nach individuellem Ausdruck.
Anders als christliche Kirchen, die uns mit dem Versprechen der Metaphysik und des Lebens nach dem Tod anziehen, wirbt das Museum mit dem Versprechen der Poesie und sozusagen des Lebens während des Lebens. In letzter Konsequenz zelebrieren zeitgenössische Museen die Freiheit des Individuums und thematisieren damit mehr als jeder andere Ort in der Stadt auch die Grundprinzipien unserer politischen Existenz.
Gerade in der Konkurrenz mit den Angeboten der Film-, TV- und Internetwelten bietet das „physische“, dreidimensionale Museum einen besonderen Ort, an dem das direkte, sinnliche Erlebnis noch zu bekommen ist. In der Flut virtueller Freiheitsversprechen, die zu jedem Zeitpunkt jeden Einzelnen an jedem Ort erreichen können, ist es die körperliche Existenz, die nicht reproduzierbare Qualität des individuellen Erlebens, die dem Museum seine Überlegenheit verleiht.
Darüber hinaus fungieren manche Museen zunehmend auch als Begegnungsort und bilden damit eine Variante der archetypischen Agora, dem Ort des informellen sozialen Austauschs. Jeden Freitagabend findet in der Tate Modern zum Beispiel Londons größter Single-Treff statt, wo sich Gleichgesinnte in relativ stress- und kommerzfreier Art und Weise treffen können.
Innerhalb der Stadt verkörpert das Museum damit einen wichtigen Ort zeitgenössischer Gesellschaften. Vom Hort distanzierten Bildungsdrangs hat es sich zu einer Kultstätte der Individualität entwickelt, die gewisse Freiräume der Stadt, der Gesellschaft besetzt und erhält.
Dass dieser Ort in einer Zeit universeller Kommerzialisierung Begehrlichkeiten weckt, ist offensichtlich, dies insbesondere, da das Museum von zeitgenössischen Wirtschaftskreisläufen nicht unabhängig und sein Überleben damit auch von den Kräften des Marktes abhängig ist. Es ist also eine Herausforderung für Museumsmacher und -architekten, im Kontext der zeitgenössischen Stadt, die immer stärker für kommerzielle Zwecke instrumentalisiert wird, im Museum eine Art Reservat unbestimmter Identität, einen institutionalisierten Freiraum aufrechtzuerhalten.
Das Museumsgebäude hat in dieser Diskussion eine Schlüsselposition, denn die Art und Weise, wie ein Kunstwerk präsentiert wird, entscheidet vielfach über die manchmal feine Linie zwischen Banalität und Poesie. Die Wandlung des Pissoirs, des banalsten aller Alltagsgegenstände, zum Kultobjekt erfolgt mit Hilfe des räumlichen und kulturellen Kontexts der Galerie. Alltagszusammenhänge in die Aura der Kunst zu erheben hat heute nur noch geringes Skandal-Potenzial. Eher besteht das Problem der endlosen Banalisierung aller Kunst – die Mona Lisa ist inzwischen auf jedem T-Shirt und auf jeder Einkaufstüte zu finden. Auf der anderen Seite ist die ängstliche Abhängigkeit der zeitgenössischen Kunstproduktion vom Raum der Galerie als einem Raum der qualitativen Affirmation eher stärker geworden. Der radikale Schritt, diesen Kreislauf zu durchbrechen, kam mit Joseph Beuys’ Versuch, die Kunst von der Galerie zu befreien und sozusagen in den Alltag aufzulösen. Eine These, die ironischerweise am Ende auch nur mit der Hilfe von Museen aufrechterhalten werden konnte.
Die Kunst des Museumsbaus besteht letztlich in der Fähigkeit, Räume im Spannungsfeld von Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Präsenz im Alltag und individueller Intimität, zwischen Freiheitsversprechen und künstlerischer Verbindlichkeit zu platzieren.
Ich meine, dass die Idee des Museums als Spektakel, wie sie gegenwärtig vielleicht am überzeugendsten durch Frank Gehrys Entwürfe verkörpert wird, der Herausforderung dieser feinen Balance nicht mehr gewachsen ist. Das Museum als eine städtische Attraktion neben der Musicalbühne und dem Spaßbad reduziert sein komplexes Potenzial auf den populären Effekt.
Umgekehrt ist die Vorstellung, dass sich ein Museum aus dem Kontext der zeitgenössischen Erlebniskultur zurückziehen könne, illusionär.
Zumthors Museum in Bregenz zum Beispiel ist von der Massenkultur voll assimiliert worden. Dasselbe gilt natürlich auch für das jüdische Museum in Berlin. Das so genannte „void of the holocaust“ ist bereits fester Bestandteil jeder Berlin-Tour neben Reichstagskuppel, Ku’damm und Hackeschen Höfen.
Will man den Anspruch des kontemplativen Rückzugs im Kontext der Massenkultur nicht zur eitlen Geste verkommen lassen, sollte ein Museum beides haben: die Verzahnung mit der Umgebung einerseits wie das Louisiana Museum oder die Insel Hombroich (wobei mir kein Museum einfiele, dem diese Verzahnung mit der Stadt im gleichen Maße gelungen wäre) und den ausgegrenzten Ort, den Schutzort auf der anderen Seite. Das Museum soll Cafés, Souvenirstände, Shops und Bars haben, es soll Abendveranstaltungen, Volkshochschulkurse und Kinderläden anbieten; es muss ein lebendiger Treffpunkt der Menschen sein.
Gleichzeitig muss jedoch ein nicht definierter Raum übrig bleiben, der ganz und gar durch die Welt eines Künstlers erfüllt werden kann. Dieser Raum ist keine white box, die im Klischee des modernen Museums die Aura des Museums des 19. Jahrhunderts wieder institutionalisiert, er ist auch nicht notwendigerweise ein Architekten-Raum, der mit schicken Kunstgriffen die letzten Details verschwinden lässt. Ein angemessenes zeitgenössisches Museumsgebäude ist eines, das sich weder in Eitelkeiten erschöpft noch die Aura des Besonderen zum Werkzeug der Vermarktung verramschen möchte. Sein Raum ist ein wandelbarer, ein begrenzter, aber immer wieder neu definierender Raum, ein Raum der Begegnung. Er ist ein Raum, der durch Architektur ausgegrenzt, aber durch Künstler und Kuratoren erfüllt werden muss.
Veröffentlicht in Sauerbruch Hutton. Archive. Baden: Lars Müller Publishers, 2006